Theresa May
APA/AP/Alastair Grant
EU-Gipfel

Ärger über Mays Hinhaltetaktik

Die britische Premierministerin Theresa May hat mit ihrem Auftritt auf dem EU-Gipfel in Brüssel für Ärger gesorgt. Kritisiert wurde in der Nacht auf Freitag vor allem, dass May ihre Erwartungen an die EU nicht klar genug formuliert habe. „Wir müssen auch einmal wissen, was genau London will“, sagte etwa Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel.

„Wir sind heute nicht viel weitergekommen“, fasste Bettel in der Nacht Mays Auftritt zusammen. Er warnte die britische Premierministerin davor, die Geduld der EU-Partner durch eine Hinhaltetaktik überzustrapazieren. „Wir werden nicht Gipfel auf Gipfel auf Gipfel machen“, sagte er. „Wir müssen jetzt wissen, was London will, und dann werden wir entscheiden“, so Bettel. „Wir haben unsere Arbeit gemacht, wir können nicht mehr machen.“

Ähnlich äußerte sich auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. „Unsere britischen Freunde müssen uns sagen, was sie wollen, anstatt uns zu fragen, was wir wollen“, sagte er. „Ich brauche Klarstellungen.“ Die Diskussion sei „mitunter nebulös und unpräzise“. Es gehe nicht an, dass Großbritannien erwarte, dass die EU „die Lösungen liefert“.

Stimmung laut Insidern „sehr schlecht“

Noch deutlicher wurde die Kritik in EU-Kreisen formuliert. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel habe die Premierministerin während des Vortrags mehrfach unterbrochen und zur Präzisierung ihrer Haltung aufgefordert, hieß es. Die Stimmung sei „sehr schlecht“ gewesen. Die EU-Chefs hätten der Premierministerin einige Wochen Zeit gegeben, um darzulegen, „was die Briten wollen“.

Jean-Claude Juncker
APA/AP/Alastair Grant
EU-Kommissionspräsident Juncker kritisierte die Diskussion mit May als „mitunter nebulös und unpräzise“

Nach dem Gipfeltreffen sagte Juncker, dass die EU zwar ein Abkommen wolle, aber man werde auch die Vorbereitungen auf einen „No Deal“-Ausstieg weiterführen. In der kommenden Woche werde die Kommission einen Leitfaden für einen solchen „harten Brexit“ vorlegen. „Da wir nicht wissen, wie die Reaktionen ausfallen werden, weder was die EU-27 angeht noch Großbritannien, wird die Kommission am 19. Dezember alle Informationen zur Vorbereitung veröffentlichen, wenn es zu einem ‚No-Deal‘ kommt“, so Juncker.

„Brexit“: „Unverbindliches Angebot“ der EU an London

„Ein unverbindliches Angebot“ – mehr hatten die EU-27 der britischen Premierministerin May auf dem EU-Gipfel nicht anzubieten, berichtet ORF-Korrespondent Peter Fritz aus Brüssel.

„Wir wollen vor allen Dingen nicht, dass in Großbritannien der Eindruck entsteht, es würde irgendetwas neu verhandelt. Es gibt keine neuen rechtlichen Verpflichtungen, die man der EU auferlegen kann“, so Juncker. Die EU könne sofort mit den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen beginnen, wenn das britische Parlament das Abkommen angenommen habe. Der Kommissionspräsident sagte: „Wir möchten jetzt nicht denen, die noch zögern und einen falschen Eindruck und Misstrauen gegenüber der EU haben, den Eindruck geben, dass wir sie nicht ernst nehmen würden. Wir werden bei den künftigen Beziehungen aufs Gaspedal steigen.“

May bat um Zugeständnisse

Jedenfalls „verstehe ich selber nicht so richtig, in welcher Stimmungslage ich mich befinde, und es ist noch schwieriger, wenn es um das britische Parlament geht. Die kann ich noch weniger verstehen“, so Juncker. Die Meinungsverschiedenheiten bei den Briten seien offensichtlich sehr groß. „Vor ein paar Tagen hatte ich den Eindruck, es würde keine Einigung geben, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Wir brauchen einen klaren, gut strukturierten Vorschlag, von dem aus wir die Vorstellungen der britischen Partner entnehmen können“, sagte Juncker.

Die EU sei „fest entschlossen“, mit London schnell Verhandlungen über eine Vereinbarung aufzunehmen, um eine in Großbritannien umstrittene Auffanglösung für die irische Grenze („Backstop“) zu verhindern. Sollte diese Notlösung doch notwendig werden, solle sie nur „vorübergehend“ in Kraft bleiben, bis eine Vereinbarung zwischen beiden Seiten gefunden sei, hieß es weiter. „In einem solchen Fall würde die Union ihr Bestes tun, ein Folgeabkommen auszuhandeln und zügig abzuschließen.“ Die Auffanglösung solle damit nur „so lange wie unbedingt erforderlich“ in Kraft bleiben.

May hatte zuvor eindringlich um Zugeständnisse bei den „Brexit“-Vereinbarungen gebeten. In ihrem Land habe sich der Eindruck verbreitet, die Nordirland-Klausel in dem Austrittsvertrag sei eine „Falle, aus der das Vereinigte Königreich nicht mehr herauskommt“, sagte May. Mit den „richtigen Zusicherungen“ vonseiten der EU könne das ausgehandelte „Brexit“-Abkommen im Unterhaus aber doch noch verabschiedet werden, sagte May weiter. Sollte es bei der Auffanglösung kein Entgegenkommen der EU geben, „ist das Abkommen – unser Abkommen – in Gefahr“.

Tusk: Keine Neuverhandlung

Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, dass das „Brexit“-Abkommen „nicht neu verhandelt werden kann“. Ferner sei der „Backstop“ als „Versicherung“ gedacht, um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden. Die EU sei fest entschlossen, rasch an einem Folgeabkommen zu arbeiten, das bis 31. Dezember 2020 alle Vorkehrungen festlegt, damit der „Backstop“ als Notfalllösung nicht ausgelöst werden muss.

Jean-Claude Juncker und Donald Tusk
AP/Alastair Grant
EU-Ratspräsident Donald Tusk versicherte, dass der „Backstop“ nur vorübergehend sei

Im Beschluss der EU-27 heißt es: Sollte der „Backstop“ dennoch gebraucht werden, „würde er nur befristet angewandt, bis er durch eine Folgelösung ersetzt würde, die sicherstellt, dass eine harte Grenze vermieden wird“. In diesem Fall würde die EU alle Kräfte einsetzen, um ein Folgeabkommen schnell zu verhandeln und abzuschließen. Dasselbe würde man von Großbritannien erwarten, „sodass der Backstop nur so lange wie nötig in Kraft wäre“.

Damit versucht die EU britische Sorgen zu entkräften, dass der „Backstop“ zur Dauerlösung würde. Strikte „Brexit“-Befürworter fürchten, dass Großbritannien damit auf Dauer eng an die EU gebunden bliebe und keine eigenen Handelsverträge abschließen könnte. Unter anderem deshalb zeichnet sich im britischen Unterhaus keine Mehrheit für das Austrittsabkommen ab. Großbritannien will die EU am 29. März 2019 verlassen.

Kurz: „Backstop keine dauerhafte Lösung“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte am Freitag erneut, dass die EU-27 nicht bereit seien, das Austrittsabkommen aufzuschnüren. Die EU-27 hätten aber auch festgestellt, „dass der Backstop, die Lösung zu Nordirland, auf keinen Fall eine dauerhafte sein soll“, sondern nur vorübergehend. Er hoffe, dass das einen Beitrag leiste, einen „Hard Brexit“ zu verhindern.

Ein „Brexit“ ohne Abkommen wäre vor allem zum Schaden Großbritanniens, sagte Kurz. „Wir haben eineinhalb Jahre verhandelt, und es gibt ein Austrittsabkommen, das ein gutes ist für beide Seiten.“ Auch die deutsche Bundeskanzlerin lehnte eine Neuverhandlung des Abkommens mit London ab. „Wir wollen eine sehr nahe Partnerschaft mit Großbritannien, weil wir uns Großbritannien freundschaftlich verbunden fühlen“, sagte sie.

Sturgeon für zweites Referendum

Die Chefin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon, forderte ein zweites „Brexit“-Referendum, wenn der Vertrag zum Austritt aus der EU vom britischen Unterhaus abgelehnt wird. Auch der britische Ex-Premier Tony Blair hatte sich zu Wort gemeldet. In einem vorab veröffentlichten Redetext heißt es, die EU und Großbritannien sollten sich auf ein zweites „Brexit“-Referendum vorbereiten. Nachdem der Deal aller Voraussicht nach das Unterhaus nicht passieren werde, könnte eine neue Abstimmung die festgefahrene Situation beenden.