Bundeskanzler Sebastian Kurz, EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
Reuters/Eric Vidal
Österreichs EU-Ratsvorsitz

Souveräne Pflicht, Probleme bei der Kür

Ein halbes Jahr lang hat Österreich den EU-Ratsvorsitz innegehabt. Die Pflichtaufgaben wurden souverän erfüllt. Probleme gab es bei der Kür. Vor allem in der Asyl- und Migrationspolitik konnte die Regierung dem Anspruch, „Brückenbauer“ sein zu wollen, nicht gerecht werden. Und auch die Innenpolitik wirkte bis nach Brüssel.

Die Ratspräsidentschaft war Österreichs dritte seit seinem Beitritt zur EU. Sie fand unter besonderen Vorzeichen statt. Die derzeitige EU-Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker geht 2019 in ihr letztes Amtsjahr. Ende Mai findet die Europawahl statt, davor löst sich das EU-Parlament offiziell auf. Bis dahin gelte es, noch möglichst viele in der Pipeline liegende Projekte abzuarbeiten, sagte der langjährige Spitzendiplomat und ehemalige Politische Direktor im Außenministerium, Stefan Lehne, gegenüber ORF.at.

Österreichs Programm sei aus diesem Grund weitgehend vorgegeben gewesen, „da kann man nicht viel Neues erfinden“. „90 Prozent waren Pflichtprogramm, zehn Prozent Kür“, sagte Lehne. Was die Pflicht angeht, stellt er dem Ratsvorsitz ein gutes Zeugnis aus. Die österreichischen Teams in Brüssel und Wien hätten überwiegend gute Arbeit geleistet. Die Kür dagegen „ist nicht immer vollkommen gelungen“.

Zahlreiche Brocken weggeschafft

„Die österreichische Ratspräsidentschaft hat in den letzten Monaten wahnsinnig viel weggeschafft“, sagte auch der deutsche „Politico“-Journalist Florian Eder, Gestalter des „Brussels Playbook“, im ORF.at-Gespräch. Eders Newsletter ist die morgendliche Pflichtlektüre der Brüsseler Blase.

Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Salzburg
APA/Barbara Gindl
Hohe Politik, strahlender Sonnenschein: Die Bilder des Salzburg-Gipfels werden in Erinnerung bleiben

Die Liste der auf den Weg gebrachten und ausverhandelten Vorhaben ist lang. Im Bereich der erneuerbaren Energien wurde das Clean Energy Package nach zweijährigen Verhandlungen politisch abgeschlossen. Einigungen gab es, was die Regulierung des Kohlendioxidausstoßes bei Neuwagen betrifft, beim Einwegplastikverbot und Verkehrspaket, das unter anderem die Rechte von Fernfahrinnen und Fernfahrern stärken soll.

Vorsitzbilanz in Zahlen

  • 2.062 Sitzungen sind in den vergangenen sechs Monaten von den Mitgliedern von Österreichs Ständiger Vertretung bei der EU vorbereitet und geleitet worden.
  • Vier EU-Gipfel fielen in die Zeit der Ratspräsidentschaft (darunter jener in Salzburg), 36 Räte von Ministerinnen und Minister in Brüssel und 13 informelle in Österreich.
  • 161 politische und Hunderte weitere technische Triloge wurden abgehalten.
  • In 53 Trilogen kamen Einigungen zwischen den Staaten und dem Europaparlament zustande.
  • 75 Einigungen konnten im Rat der EU-Staaten erzielt werden.

Beschlossen wurden weiters die inhaltliche Ausgestaltung des milliardenschweren Forschungsprogrammes Horizon Europe, die Ausweitung des Austauschprogrammes Erasmus und eine ermäßigte Mehrwertsteuer auf elektronische Publikationen. Gemeinsam mit der EU-Kommission trieb man die europaweite Strategie im Bereich Künstliche Intelligenz voran.

Anfang Dezember verabschiedeten die Mitgliedsländer auf Initiative Österreichs eine Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus. Fortschritte wurden unter österreichischem Vorsitz auch bei den schwierigen Verhandlungen über das nächste Langzeitbudget gemacht. Dafür gab es beim EU-Gipfel im Dezember in Brüssel Lob von der EU-Spitze.

Keine Brücken bei der Migration

Das Motto der Ratspräsidentschaft lautete „Ein Europa, das schützt“. Die selbst gesteckten hohen Ziele im Bereich der Migrations- und Asylpolitik konnte Österreich nicht erfüllen. Die personelle Aufstockung der Grenzschutzbehörde Frontex wurde verschoben, die beim EU-Gipfel im Juni von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) erwähnten „Anlandeplattformen“ für Migrantinnen und Migranten in den Staaten Nordafrikas sind vorerst vom Tisch. „Das hat auf dem Papier viel besser ausgeschaut“, sagte Ex-Diplomat Lehne.

Migrantanten auf einem Rettungsschiff
AP/Olmo Calvo
Gerettete im Mittelmeer: In der Migrations- und Asylpolitik gab es nur wenig Annäherung zwischen den Staaten

Am Anfang der Ratspräsidentschaft hatte Kurz angekündigt, Österreich wolle „Brückenbauer“ sein. „Bei Frontex wollte man das. Aber da hat man nicht genug Länder gefunden, die über diese Brücke gehen wollten“, sagte Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) zu ORF.at. Erneut fehlgeschlagen in der Asylpolitik ist die Reform des Dublin-Systems. Dabei hatte Österreich hier viel Zeit und Energie investiert: Bereits während der Brüsseler Sommerpause im August traf Österreichs Ständiger EU-Vertreter Nikolaus Marschik mit seinen Widerparts aus den anderen EU-Staaten zusammen, um Möglichkeiten für einen Kompromiss auszuloten. Die Differenzen waren letztlich aber zu groß.

„Migrationsfrage zu hoch gespielt“

Der starke Fokus auf die Migrationspolitik sorgte auch für Kritik: „Die Migrationsfrage wurde viel zu hoch gespielt. Hätte man dieselbe Energie auf den Klimaschutz, auf die Wiederbelebung der EU-Erweiterung am Balkan verwendet, wären wir weiter“, sagte der frühere EU-Kommissar und ÖVP-Politiker Franz Fischler dem „profil“.

„Ausgerechnet beim Thema Außengrenzschutz, dem der 32-jährige Kurz seinen steilen Aufstieg verdankt, kann der konservative Politiker also kaum Erfolge vorweisen“, schrieb das „Handelsblatt“. Bei der Migrationspolitik wäre das Ergebnis auch bei einer anderen Ratspräsidentschaft kaum anders ausgefallen, zitierte die deutsche Zeitung einen Brüsseler Diplomaten. „Aber andere Regierungen hätten wohl den Mund weniger voll genommen.“

Sebastian Kurz und Heinz Christian Strache
APA/Hans Punz
Bundeskanzler Kurz, Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ): Die Innenpolitik strahlte bis nach Brüssel aus

Wieder einmal nichts geworden ist es mit der Finanztransaktionssteuer. Nach zähen Verhandlungen konnte man sich lediglich auf eine magere Aktiensteuer einigen. Gemischt fällt die Bilanz im Digitalbereich aus: Die Steuerpläne für Internetkonzerne wurden von Deutschland, Schweden und Dänemark weitgehend durchkreuzt, die Entscheidung zum Urheberrecht verschoben, E-Privacy blieb in der Schublade liegen – mehr dazu in fm4.ORF.at.

Nein zum Migrationspakt als „Störfaktor“

Überschattet wurde die Ratspräsidentschaft aber von einer innenpolitischen Entscheidung: Österreichs Rückzug aus dem UNO-Migrationspakt. Lehne spricht von einem „Störfaktor“: „Weil natürlich da eine Kettenreaktion ausgelöst worden ist. Eine ganze Reihe von Regierungen wollte nicht weniger populistisch sein als die österreichische und hat sich diesem Trend angeschlossen.“

„Ein Projekt, das an und für sich nichts anderes war als ein Signal für größere Zusammenarbeit zwischen Entsendeländern und Aufnahmeländern in der Migration und rechtlich unverbindlich unter Bewahrung der nationalen Souveränität, ist plötzlich zu einer Art Teufelsding stilisiert worden“, so Lehne. Das sei bei der Mehrheit der EU-Regierungen nicht gut angekommen. Ähnlich äußert sich ÖGfE-Generalsektär Schmidt: Das Nein zum Migrationspakt „war dem Image Österreichs nicht dienlich, weil man hier das nationale Interesse über den EU-Ratsvorsitz gestellt hat“.

Fließende Grenzen

Gerade im Bereich Migrations- und Asylpolitik war die Grenze zwischen österreichischer Innen- und Europapolitik fließend. „Dieses halbe Jahr Ratspräsidentschaft ging einher mit dem zweiten halben Jahr Regierung“, sagte „Politico“-Journalist Eder, „dass sich das nicht immer so ganz scharf trennen lässt, hat man gesehen beim UNO-Migrationspakt, wie überhaupt bei der österreichischen Linie, was Migration und die Flüchtlingsfrage angeht.“

EU-Chefunterhändler Michel Barnier
AP/Virginia Mayo
EU-Chefverhandler Michel Barnier küsst die Hand von Großbritanniens Premierministerin Theresa May: Die „Brexit“-Verhandlungen überschatteten die Ratspräsidentschaft

In Brüssel hat man Eder zufolge aber noch etwas anderes mitbekommen, was die Regierungszusammenarbeit zwischen ÖVP und FPÖ betrifft: „Sebastian Kurz schaut bei den gelegentlichen Ausfällen nach rechts der Freiheitlichen weg, so lange sie nicht antisemitisch werden, wo er immer eine sehr klare Linie gezogen hat. Und die FPÖ macht mit bei Dingen, die Kurz als sehr liberalen Reformer dastehen lassen und die eigentlich ihrer eigenen Wählerschaft – wie ich das sehe von außen – nicht sehr gefallen können.“

„Ein bisschen Glück“ in Salzburg

Von allen Seiten positiv bewertet wurden die Gastfreundschaft und die perfekte Organisation. Zum Gelingen einer Ratspräsidentschaft gehört laut Eder ganz allgemein immer auch „ein bisschen Glück dazu“. Das hatte Österreich beim Salzburg-Gipfel im September. Das Wetter in der für den Schnürlregen berüchtigten Stadt hielt. So entstanden Bilder, die in Erinnerung bleiben werden: Die Staats- und Regierungsspitzen, die bei Sonnenschein durch den Mirabell-Garten flanieren, das Gruppenfoto vor der Kulisse der Festung Hohensalzburg.

Brexit-Protest
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Demo in London: Der „Brexit“ wird untrennbar mit der Ratspräsidentschaft verknüpft bleiben

Was aber wohl auch in ferner Zukunft untrennbar mit dem österreichischen EU-Ratsvorsitz verknüpft bleiben wird, ist der „Brexit“. Die zähen Verhandlungen zwischen den EU-27 und London, geführt von EU-Chefunterhändler Michel Barnier, wurden im November abgeschlossen. Offiziell spielte die Ratspräsidentschaft keine Rolle bei den Gesprächen. Kurz war dennoch aktiv in Sachen „Brexit“. Der Bundeskanzler reiste zu Premierministerin Theresa May nach London und traf sie vor dem EU-Gipfel im Dezember. „Ich glaube auch ein bisschen in der Sorge um das Bild der Ratspräsidentschaft“, sagte Eder. Weniger Glück hatte Österreich bei der Abschaffung der Zeitumstellung. Die EU-Kommission hatte den Ball in dieser Frage an die Mitgliedsstaaten gespielt – die allerdings zu keiner gemeinsamen Position fanden.