Sneschina Petrova, Hauptdarstellerin des Theaterstücks „Medea“ von Euripides, mit Pickerln im Gesicht und Zigarette im Mund
Sneschina Petrova
Politbotschaft

Kulturhauptstadt Plowdiw riskiert viel

Die bulgarische Stadt Plowdiw ist eine der ältesten Europas – älter als Athen und Rom. Doch sie ist auch ein sozialer Brennpunkt mit einem der größten Roma-Ghettos auf dem Balkan. Ziel der Kulturhauptstadt Europas 2019: das Gemeinschaftsgefühl stärken. Bleibt die Frage, ob das klappen kann. Klar ist bereits, dass nicht alles zeitgerecht fertig wird.

Wenige Tage sind es noch bis zum Spektakel „Wir sind alle Farben“, mit dem das Festjahr „Plowdiw Kulturhauptstadt Europas“ am 12. Jänner eröffnet wird. Zum ersten Mal geht der Titel nach Bulgarien. Professionelle Künstlerinnen und einfache Bürger proben für die Fiesta aus bulgarischen Tänzen und Dudelsackmusik. Kuratiert wird die imposante Schau samt beeindruckender Lichtinstallation vom Berliner Künstlerkollektiv phase7 performing.arts.

Die offene Bühne auf sechs Ebenen für insgesamt 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer muss noch installiert werden, die drehbaren Bildschirme werden ebenfalls erst kurz vor dem Jahreswechsel angebracht – in letzter Sekunde. Und: Von jeder Richtung wird der leuchtende „Turm zu Babel“ zu sehen sein, das Kulturjahr soll alle erreichen.

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Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Das Haus Klianti ist ein Juwel der Architektur der Epoche der Bulgarischen Wiedergeburt. Die Decken aus dem Jahre 1817 sind mit Landschaften und floralen Elementen bemalt.
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Die Moschee Murads des Herrschers ist die älteste erhaltene Freitagsmoschee der osmanischen Architektur auf dem Balkan
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Die Häuser im historischen Stadtzentrum sind bunt und reich verziert wie hier das Haus eines Kaufmanns aus dem Jahr 1835
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Das „Tabakstadt“ genannte historische Viertel aus den 1920er Jahren gehört zum industriellen Erbe Europas. Die einzigartigen Tabaklager sind jedoch bis auf wenige Ausnahmen verlassen und befinden sich in baufälligem Zustand.
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Die Kirche St. Konstantin und Elena gehört zu den ältesten christlichen Kultstätten der Region
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Plowdiw im Herbst. Blick auf die Stadt von einem der vielen Hügel.
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
„Zusammen“: Unter diesem Motto geht es für die bulgarische Stadt Plowdiw in ihr Kulturhauptstadtjahr
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Junge Roma zusammen mit ihren Trainern während des Theaterworkshops im Rahmen des integrativen Projekts „Medea“
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Bummel durch das alte Plowdiw
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Schöne Ornamente über dem Portal des Hauses, das früher einer kaufmännischen Familie gehörte
Eindrücke aus Plowdiw
Diljana Lambrewa
Im Antiken Theater finden im Sommer das Opernfestival Opera Open, ein großes Folklorefestival und das Rockfestival Sounds of Ages statt

„Medea“ mit Roma, Juden und Armeniern

Auch für die altgriechische Tragödie „Medea“ von Euripides, die Ende Juni im antiken Theater aufgeführt wird, wird bereits geprobt. Im Rahmen eines gleichnamigen Integrationsprojekts finden Workshops für junge Roma, Juden und Armenier statt. Nach einem Auswahlverfahren werden es einige von ihnen schließlich bis auf die große Bühne schaffen. „Bei den einzelnen ethnischen Communitys haben die Trainings hervorragend funktioniert“, erzählt Sneschina Petrowa, die Darstellerin der „Medea“.

„Wir haben uns mit dem Thema ‚Konflikt‘ auseinandergesetzt – Konflikt in der Familie, Konflikt zwischen den Eltern und der Platz der Kinder in diesem Konflikt. Die reale Herausforderung wird allerdings erst dann kommen, wenn die Proben für die Aufführung beginnen“, meint sie und hofft, dass die Kinder bereit sein werden, zusammen zu spielen.

Plowdiw – ein sozialer Brennpunkt

Die zweitgrößte Stadt Bulgariens mit rund 343.400 Einwohnern floriert, Plowdiw zieht immer mehr Jungunternehmerinnen und Kreative an. Doch Minderheiten, vor allem die 80.000 Roma, sind von dieser Entwicklung ausgeschlossen. Die meisten von ihnen leben in Stolipinowo, einem der größten Roma-Ghettos Europas. Die Vorurteile gegenüber den Roma sind groß, kleine kriminelle Delikte fachen das rassistische Feuer immer wieder an.

Die Gruppe von Kulturschaffenden, die sich vor fünf Jahren für die Kandidatur der bulgarischen Stadt um den Titel Kulturhauptstadt 2019 zusammengetan hat, drückt sich nicht davor, diesen Konflikt zu thematisieren. Im Gegenteil. In der Begründung stand er als Trumpf, erzählt Mariana Tscholakowa, Dozentin für Kulturproduktion und deutsche Honorarkonsulin in Plowdiw:

„Zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, die jahrhundertelang in Plowdiw harmonisch zusammengelebt haben, gibt es Reibungen. Als wir den Antrag für den Titel ‚Kulturhauptstadt Europas‘ stellten, wollten wir ehrlich sein und haben das Konzept aus dieser Perspektive entwickelt. Ein Großteil der sozialen Probleme kann nicht bloß durch Sozialhilfen gelöst werden. Man braucht mehr Bildung und Kultur." Das Motto der Kulturhauptstadt Plowdiw war schnell gefunden – „Together“. Doch wie der Titel für einen neuen Umgang mit Konflikten und Kultur eingesetzt werden soll, darüber gingen die Meinungen von Bürgervertreterinnen und Politikern auseinander.

Kulturschaffende vs. Politiker

Im Vorfeld von Plowdiw 2019 wurden widerspenstige Kulturschaffende vom Vorstandsrat verdrängt. Ein Kritiker ist der Verleger Manol Pejkow. Er ist davon überzeugt, dass durch solche Praktiken das ganze Projekt der Kulturhauptstadt leidet. „Der Fokus wich langsam von unseren ursprünglichen Ideen ab. Wir hatten anspruchsvolle Ausbildungen für Kulturmanager vorgesehen, auch eine Zusammenarbeit zwischen jungen Kulturmanagern und europäischen Partnern. Der Maßstab ist nun bedeutend kleiner geworden. Leider. Nicht das Ereignisjahr 2019 selbst ist wichtig. Wichtig ist, was bleibt. Ob wir im Jahr 2020 als eine reifere Gesellschaft und bessere Stadt aufwachen oder nicht.“

Iwajlo Dernew, Journalist bei der Onlinezeitung Pod Tepeto, findet hingegen das Programm von 300 Projekten und mehr als 500 Events sehr gut. Den Umgang der Politiker mit dem Riesenkulturprojekt hingegen nicht. Rund zwei Millionen Besucher werden erwartet, zugleich ist das Stadtzentrum eine Baustelle.

Der Grund: Um drei Jahre hat sich die Finanzierung für Plowdiw 2019 verzögert. Gerichtliche Prozesse über Eigentum ziehen sich immer noch und blockieren den Umbau von Galerien. Die Staatsoper wartet jahrelang schon auf einen modernen Saal. Vizekulturministerin Anelia Geschewa nimmt die Kritik gelassen hin: „Es ist nicht wichtig, wann genau die neue Infrastruktur fertig wird, sondern die Tatsache, dass kolossale Änderungen im Stadtbild und in der Kulturpolitik im Gange sind“, sagte sie.

Neues Selbstbewusstsein

Mit dem Erwerb des Titels „Kulturhauptstadt Europas“ ist das mediale Interesse für das antike Plowdiw messbar gestiegen. Erbaut auf Hügeln, wie einst Rom, blickt die zweitgrößte Stadt Bulgariens auf eine mehr als 8.000 Jahre alte Geschichte zurück. Auf den Resten römischer Monumentalbauten stehen christliche, armenische und muslimische Gotteshäuser. Die reich verzierten Häuser der Handelsfamilien aus der Zeit der Bulgarischen Wiedergeburt, als 500 Jahre lang die Osmanen das Reich beherrschten, beherbergen Museen mit umfangreichen Sammlungen an Malerei, Ikonen und Holzschnitten.

Diese seltene kulturelle Vielschichtigkeit möchte Plowdiw für ein großes Publikum aus aller Welt öffnen. Das Potenzial der „Stadt auf sieben Hügeln“ herausholen heißt auch, vernachlässigte urbane Orte zu neuen Gemeinschaftsräumen zu transformieren. Eine Reihe von Events in diese Richtung sind bereits ein Teil des Kulturkalenders 2019.

Die gemeinsamen Anstrengungen der Bürgerinnen und Bürger sollen jedenfalls in ein neues Gemeinschaftsgefühl münden. Das wünscht sich der Journalist Iwajlo Dernew am Vorabend des Festjahrs: „Für mich ist es wichtig, dass sich die ganze Stadt mit dem gigantischen Kulturprojekt identifiziert. Dass man sich denkt: Das ist mein Projekt. Aber auch das Projekt der Künstler, die im Atelier nebenan arbeiten, eines kleinen Kulturvermittlers, des Armeniers um die Ecke. Dass sogar der Taxifahrer davon spricht. So einen Zusammenhalt erhoffe ich mir.“