Gemälde „Christi Geburt“ von Gustave Dore
Gustave Dore, Nativite; Alamy Stock Photo/Lanmas
Vom menschlichen zum göttlichen blick

Die Augenzeugen des Weihnachtsfests

Augenzeugen, so will es die Bibel, sollen garantieren, dass es eine Vermittlung der Ereignisse von Bethlehem gibt. Wenn die Hirten, die auf dem freien Feld lagern, das Wunder einer Geburt schauen sollen, dann auch mit dem Auftrag, die Geschichte des Gesehenen weiterzutragen. Ein nicht unheikles Unterfangen. Denn wie viel Wort und wie viel Bild es für die Vermittlung des Glaubens braucht, war eine über Jahrhunderte viel diskutierte Frage.

Wenn der große Mystikforscher Bernard McGinn das Christentum als eine Religion definiert, die auf den „Umgang mit Visionen“ gegründet sei, dann berührt er damit das ewig heikle Thema des Verhältnisses einer Religion zu Bildern (wie auch schon mehrfach von ORF.at in Berichten rund um das Weihnachtsfest thematisiert). Nicht nur der lateinische Westen und die stark an der griechischen Denktradition orientierte Orthodoxie unterscheiden sich im Umgang mit Bildern. Zwischen Katholiken und Evangelischen war der Umgang mit den Bildern schon in der frühen Neuzeit ein Zankapfel. Für die Protestanten lenkten Bilder, so die Überzeugung des 16. Jahrhunderts, eindeutig zu sehr von der Bibel ab, die ja erstmals in Volkssprache vorlag.

„Weil du mich gesehen hast, glaubst du“

Für die Inkarnationsreligion Christentum ist die Frage nach der Beweiskraft visueller Erfahrung eine zentrale. Augenzeugenschaft (und deren Weitergabe in quasi direkter Nachfolge) ist, wie etwa die Geschichte des Heiligen Thomas belegt, ein zentrales Thema der Glaubenserfahrung. „Weil du mich gesehen hast, glaubst du“, sagt Jesus zu Thomas bei seinem Wiedererscheinen (Joh 20,29) und fügt hinzu: „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“

Glaube, so kann man auf der Grundlage dieser Bibelstelle sagen, knüpft gerade an jene Momente an, für die es kein einprägsames Bild gibt, ja, die sich jeder visualisierbaren Erfahrung entziehen. So wird das Religiöse durch das Unsichtbare bestimmt, durch eine Art unsichtbare Hinterwelt, wie es der Kunsthistoriker David Ganz nennt, die klar vom Bereich des körperlich Sichtbaren geschieden ist. Und doch muss diese Welt des Unsichtbaren in zentralen Fragen immer wieder in Erscheinung treten und damit sichtbar werden.

Gemälde von Guercino: Der Ungläubige Thomas
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Nicht nur sehen, sondern auch tasten: Der ungläubige Thomas in der Interpretation von Caravaggio (um 1601/1602, Potsdam Schloss Sanssoucie)

Für das Urchristentum ist noch die Kette des Bezeugens eine entscheidende Grundlage in der Glaubensvermittlung. „Die Botschaft der Augenzeugen vermittelt einer nicht körperlich sehenden Gemeinde den Glauben, koppelt diesen aber zurück an den Sehakt der Augenzeugen“, beschreibt der Theologe Andreas Matena den Effekt, dass „die Gemeinde das Sehen der ‚Herrlichkeit Christi‘ in der Kontinuität mit den Augenzeugen für sich in Anspruch nehmen kann“. Dass das Wort Fleisch geworden sei und nun unter uns wohne, habe auch die spätere Gemeinde in diesem „sekundären Sehakt“ nachvollzogen.

„Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir schauten und was unsere Hände betasteten vom Wort des Lebens (…), verkünden wir euch hier“ (1 Joh 1, 1-3), heißt es entsprechend programmatisch am Beginn des Johannesbriefes.

Zum Thema:

Zuletzt rund um das Thema Weihnachten und die Macht der Bilder auf ORF.at veröffentlicht:

„Ein Bild ist mehr als eine Illustration“

„Ein Bild ist ein Bild, wenn es mehr ist als eine Illustration“, erläuterte der italienische Regisseur Romeo Castellucci diesen Sommer im Gespräch mit ORF.at vor seiner Salzburger „Salome“-Inszenierung. Der Prophet Johanaan spielt in dieser Oper bekanntlich die Rolle eines am Logos orientierten „Sehenden“, der von einer kommenden Herrschaft eines neuen Anführers kündet, der eben nicht in die Matrix klassischer Machtaufstellungen und Darstellungsweisen passt. Gerade die Glaubensstärke des Johanaan wird die Prinzessin Salome mit an den Rand des Wahnsinns führen. Für Castellucci, der ja stets das Spannungsverhältnis von Bildern und Texten in seinen Arbeiten thematisiert, liegt die Bedeutung des Bildes immer in einer Streitsituation begründet. „Das Sichtbare“, so seine Überzeugung, „wird immer von dem Widerstand des Nicht-Sichtabren bestimmt.“ Und: „Ein Bild ist mehr als eine Illustration, wenn es einen Kampf im Kopf gibt und wenn es aus dem Kampf mit dem Nicht-Sein kommt.“

„Das Sichtbare als Widerstreit mit dem Unsichtbaren“

Bilder müssen mehr sein als eine Illustration, erklärte Romeo Castellucci in diesem Sommer im Gespräch mit ORF.at: „Bilder entspringen immer einem Kampf im Kopf.“

Der Mensch und das göttliche Sehvermögen

Dass die Auseinandersetzung mit Bildern an die Grenzen aller vom Menschen ermessbaren Evidenzen geht, hat der Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues (Cusanus) am Beginn der Neuzeit in seinem Traktat „De visione dei“ (1453) festgehalten. Eine Mönchsgemeinschaft am Tegernsee lässt er im Halbkreis um eine Ikone aufstellen, um im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Bild das allumfassende, göttliche Sehvermögen zu demonstrieren: Während die Mönche ihre Positionen vor der Ikone tauschen und diese ständig in den Blick nehmen, erfahren sie zugleich die Kraft, mit der der angeschaute Gegenstand sie selbst mit in den Blick nimmt. Ein physischer Akt der Überschreitung klassischer Sehbahnen soll eine Ahnung von der Ausweitung des menschlichen Sehfeldes geben.

Überspitzt könnte man sagen: Wer meint, dass die Dezentrierung des Blickes mit dem Roman und der bildenden Kunst der Moderne in den frühen 1920er Jahren beginne, der darf sich an diesem an der experimentellen Methode geschulten Traktat aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts orientieren. Die Ableitung von Cusanus lautet dabei freilich nicht Freilegung einer vielschichtigen Ich-Perspektivierung. Der Einzelne soll auf der Grundlage dieser beinahe schon empirisch angelegten Versuchsanordnung eine Ahnung von der Potenz des in alle Richtungen wirkenden göttliches Blickes bekommen.

Die Überwindung der Blickbeschränkung

Die Wirksamkeit des göttlichen Blicks, so der Kunsthistoriker und Mediävist Ganz, liege darin begründet, „den menschlichen Blick zu übersteigen und ganz in sich einzuschließen“. „Niemals schließt Du die Augen, niemals wendest Du Dich woanders hin“, schreibt Cusanus zum Verhältnis von göttlichem und menschlichem Blick: „Wenngleich ich mich von Dir abwenden sollte, indem ich mich gänzlich zu etwas anderem hinwende – Du änderst denn weder die Augen noch den Blick, (…) Dein Erbarmen geht mir nach.“

Bücherhinweis

  • David Ganz, Thomas Lentes: Sehen und Sakralität in der Vormoderne, Reimer Verlag.
  • Regis Debray: Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland, Avinius Verlag.

Im Akt des Bildschauens kommt die Trennung von Bild und Betrachter, ja, die Trennung Gott/Mensch ins Wanken. Schauen wird im Angesicht des religiösen Bildes zur Einheitserfahrung – ein Vorgang, der im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht nur in Bildern, sondern auch in Texten durchgespielt wird. Hieronimus Boschs berühmte „Todsündentafel“ von 1480/90, die sich mittlerweile in der Sammlung des Prado in Madrid befindet, exerziert die Übertragung des menschlichen hin zum göttlichen Blick in einer beinahe schwindelerregenden Schausituation durch. Im Zentrum des Bildes, das aufgebaut ist wie die Pupille des menschlichen Auges, steht der göttliche Blick, untermauert durch die Worte „cave cave dominus videt“ („hüte Dich, hüte Dich, der Herr sieht“). Rundherum angeordnet die Sieben Todsünden und in den vier äußeren Kreisen, farblich und stilistisch abgesetzt, die vier „letzten Dinge“. Wäre „das Volk weise und einsichtig, es sähe die letzten Dinge voraus“, steht unter anderem als Motto in der oberen Inschrift.

Gemälde von Hieronimus Bosch: Die sieben Totsünden
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Hieronimus Boschs „Todsündentafel“ (Prado, Madrid): Im Zentrum des Bildes der in der Form einer Pupille gerahmte göttliche Blick, der den Blick des Betrachters fangen und umleiten soll

Anschauen und Erkennen

Das Auge im Zentrum durchschaut alles, auch die occulta des menschlichen Herzens. Selbst „die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit wird in Abhängigkeit zum göttlichen Blick gesetzt“, erklärt der Kunsthistoriker Thomas Lentes. Bosch inszeniert die Idee der Blickveränderung vom Anschauen zum Erkennen der Unterordnung des eindimensionalen menschlichen Blicks unter die Vielheit des göttlichen Blickes ähnlich wie Nikolaus von Kues wenige Jahrzehnte vor ihm. Es ist gleichsam eine Entdeckungserfahrung während der Bildschau.

Bei Bosch ist das Sehen und zugleich Gesehenwerden eine wechselseitige Erfahrung während der Anschauung des Bildes. Im Sinne des beinahe schon Meister Eckart’schen Mystizismus aus dem Hochmittelalter wird die Trennung von menschlichem und göttlichem Auge aufgehoben. „Soll mein Auge Farbe sehen, so muss es ledig sein aller Farbe“, heißt es in der Predigt „Qui audit me“: „Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht – ist eben das, was da sieht, dasselbe wie das, was gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.“

Zurück zur „Erfahrung des Blicks“

Für Castellucci, der Kunst und Religion ja im selben Boot grundsätzlichster Auseinandersetzungen sitzen sieht, gilt es für die Gegenwart so etwas wie die alten Bilderfahrungen wiederzufinden. Im Gegensatz zu einer mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Öffnung des Blicks zu einer vieldimensionalen Erfahrung konstatiert er einen Überfluss der Bilder, der von entscheidender Tragweite für uns ist: „Ich denke, dass der zeitgenössische Blick vom Lärm charakterisiert wird, vom weißen Rauschen. Also aus einem Mangel an Differenz. Der Überfluss der Bilder hat viel mit den Schmerzen dieser Epoche zu tun. Es ist ein weißes Geräusch, das anästhesiert, was den Blick paradoxerweise verhindert. Alles Sichtbare verhindert den Blick, verhindert die Erfahrung des Blicks.“