Caroline Peters (Anna), Quentin Retzl (Georg), Wenzel Witura (Edgar) in „Medea“
APA/Georg Soulek
„Medea“ an der Burg

Liebe, Blut und Asche

True Crime statt Goldenes Vlies: Der international gefeierte Regisseur Simon Stone holt in seiner „Medea“-Fassung den zweieinhalbtausend Jahre alten Stoff in die Gegenwart und befreit ihn von Zauberei und göttlicher Intervention. Stattdessen setzt er auf flotte Dialoge, klare Bilder und eine wahre Vorlage. Am Donnerstag feierte „Medea“ im Burgtheater deutschsprachige Premiere – am Ende gab es tosenden Applaus.

„Medea“ ist wohl einer der meistbearbeiteten Stoffe der Theatergeschichte: Kaum eine Figur der griechischen Mythologie wird über Jahrhunderte hinweg so unterschiedlich interpretiert, kaum eine fasziniert und verstört so sehr zugleich. Von Euripides über Ovid bis hin zu Franz Grillparzer und Lars von Trier – keine Epoche kommt ohne „Medea“-Variante aus.

Das liegt wohl auch daran, dass der Stoff kaum an Brisanz eingebüßt hat: Medea verrät für die Liebe zuerst ihre eigene Familie und wird schließlich selbst hintergangen. Doch anstatt sich damit abzufinden, nimmt sie Rache – und tötet neben der neuen Frau des ehemaligen Geliebten auch die eigenen Kinder.

Mavie Hörbiger (Clara), Quentin Retzl (Georg), Wenzel Witura (Edgar) in „Medea“
APA/Georg Soulek
Die Bühne ist komplett in Weiß gehalten – die Flächen dienen als Leinwand für Projektionen

Geschichte mit wahrem Kern

Der australisch-schweizerische Regisseur Stone trennt sich für seine Bearbeitung von den antiken Wurzeln, stattdessen findet er eine Geschichte in den 1990ern, die seiner „Medea“ als Basis dient – und aufgrund der Parallelen einst von der „Washington Post“ als „moderne Medea“ bezeichnet wurde. In den USA sorgte damals der Fall der Ärztin Debora Green für Aufsehen: Nach ihrer Scheidung vergiftete sie ihren Mann und zündete ihr Haus an, in dem zwei ihrer drei Kinder starben.

Auf der Bühne des Burgtheaters ist es Anna (Caroline Peters), die nach einjähriger psychiatrischer Behandlung in ihr Zuhause zurückkehrt. Ihr Noch-Ehemann Lucas (Steven Scharf, der für den erkrankten Joachim Meyerhoff einsprang) will ihr dabei helfen, sich wieder einzuleben – und auch den Kontakt zu ihren beiden Söhnen wiederherzustellen. Lucas lebt, wie sich jedoch bald herausstellen wird, mittlerweile mit Clara (Mavie Hörbiger) zusammen, die Tochter von Lucas’ Chef.

Nahaufnahmen wie in Hollywood

Die Konstellation sieht auf den ersten Blick sehr nach Euripides aus, doch Stone entkernt die klassische Tragödie komplett. Das fängt schon beim Bühnenbild an, das komplett in Weiß gehalten ist und an das sterile Arbeitsumfeld der Protagonistin ebenso erinnert wie an das klischeehafte Bild einer Gummizelle.

Caroline Peters (Anna), Quentin Retzl (Georg), Wenzel Witura (Edgar) in „Medea“
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Der Kontrast zum Weiß der Bühne wird durch herabregnende „Asche“ hergestellt

Gleichzeitig dient das Weiß auch als Leinwand, die bei Stone und dessen Bühnenbildner Bob Cousins kein bloßer Gimmick ist. Wenn die Charaktere im Gespräch Emotionen zeigen, dann werden sie von einer Kamera eingefangen und in Großaufnahme gezeigt, wie ein typischer Dialog im Film – und ein schlauer Kunstgriff, der das Publikum näher ans Geschehen holt.

„Medea“ kann auch unterhalten

Auch bei den Dialogen lässt Stone keine Zweifel, warum er momentan so begehrt ist: Frei von Jamben lässt er seine Figuren über die „Sopranos“ genauso sprechen wie über das wortwörtliche Beziehungsdrama im Vordergrund – das ist kurzweilig und sorgt, etwas ungewohnt für „Medea“, auch für einige Lacher zwischendurch, etwa wenn es um den „beschissenen Namen“ für Annas Betreuerin, Anne-Marie-Lou (Irina Sulaver), geht.

Mavie Hörbiger (Clara), Quentin Retzl (Georg), Wenzel Witura (Edgar) in „Medea“
APA/Georg Soulek
Eine Flasche Kunstblut sorgt für einen weiteren Farbkontrast zur sonst sterilen Bühne

Den Platz, den Stone durch das Weglassen des antiken Ballast gewinnt, überlässt er dafür seinen Schauspielerinnen und Schauspielern: Getragen wird der Abend von Peters, die ihre Medea zwischen Wut, Bestimmung und Hilflosigkeit spielt, in die man sich über lange Strecken hineinfühlen kann. Ihr gegenüber steht Steven Scharf, willensschwach und zerrissen auf der einen Seite, angsteinflößend und rücksichtslos auf der anderen. Auch den zwei Kindern und der von Hörbiger gespielten Clara wird genug Raum für ihr Spiel gegeben – entsprechend gefeiert wurde das Ensemble vom Publikum.

Kein „Deus ex machina“

Nach nur knapp 90 Minuten ist Anna bereits am Ende angelangt: Stone lässt es Asche regnen, die einen werden mit Theaterblut übergossen, die anderen sterben im Feuer. Aus der Vogelperspektive, die die Kamera einfängt und auf die Leinwand projiziert, sehen die schwarzen Papierstücke plötzlich nicht mehr wie Asche, sondern wie verkohlte Haut aus – Stone sorgt so für einen Hollywood-artigen Gänsehautmoment zum Schluss.

Die göttliche Rettung – bei Euripides ist es der Wagen des Sonnengottes Helios, durch den Medea entkommen kann – fehlt am Ende, stattdessen kniet Lucas vor den – tatsächlichen – Trümmern seines Lebens. Es ist ein schauriger, nachdenklicher Moment, in dem Stone sein Publikum entlässt – das am Premierenabend begeistert applaudierte und vor allem Peters lautstark bejubelte. Ähnlich laut wurde Stone gefeiert, der die Euripides-Tragödie nie aus den Augen verliert – und vorzeigt, wie das antike Erbe des Theaters heute aussehen kann.