Christian Thielemann dirigiert das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker
ORF/Roman Zach-Kiesling
Thielemanns Premiere

Jubel für „preußisches“ Neujahrskonzert

„Fulminant“, unter „preußischem Kommando“ und endlich auch „nach Noten“: Die Kritiker, vor allem in Österreich, streuen Christian Thielemann Rosen nach seinem ersten Neujahrskonzert. Und in der Tat war einiges bemerkenswert an diesen doch klanglich klarer gestrickten drei Stunden als in der Vergangenheit.

Das Wort „preußisch“ hat im süddeutsch-österreichischen Raum (und man muss da nicht an das Münchner „preißisch“ samt entsprechender Tierattribute denken), nicht immer den besten Ruf. Heißt im Zweifelsfall aber seit den Zeiten des preußischen Militärmusikers Johann Gottfried Piefke auch: Hut ab vor der Präzision.

Und wer am Neujahrstag nicht nur den „Radetzkymarsch“ beim Neujahrskonzert hörte, der durfte nicht nur über ein deutlich hörbares Zwitschern begeistert sein. Ja, man hörte die Instrumentenpartien – und beim Wagner-Fan Thielemann sind das nicht nur die Hörner, sondern besonders die hohen Holzbläser – deutlich abgesetzt.

Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker
APA/Herbert Neubauer
„Prosit Neujahr“ – einiges war anders beim Neujahrskonzert unter Thielemann im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins

„Spielen wir’s doch so, wie es in den Noten steht“

Lange hätten die Philharmoniker auf diese Zusammenarbeit gewartet, hieß es im Vorfeld vonseiten des Orchesters, und Thielemann selbst betonte etwa gegenüber Ö1 im Vorfeld, dass eine Zusammenarbeit für ein Neujahrskonzert wohl so etwas wie eine Reifezeit brauche (was man auch frei übersetzen könnte mit: wer lange bittet, wird endlich erhört).

Eine Mio. vor dem Schirm

Bis zu 1,076 Mio. Zuschauer verfolgten in ORF 2 am Neujahrstag das Debüt von Christian Thielemann beim Neujahrskonzert. Im zweiten Konzertteil waren im Schnitt 1,003 Mio. Zuseher dabei, was einem Marktanteil von 47 Prozent entspricht.

Und schon im Vorfeld begeisterte sich, wenngleich wenig überraschend, Wilhelm Sinkovicz in der „Presse“ über das Thielemann’sche Motto: „Spielen wir’s doch so, wie es in den Noten steht“ – und nicht in der Klangbreite der Wiener Neujahrskonzerttradition, wo so manche Stimme schon auch verschlieren durfte.

Dass „Berliner Schnauze in Wien“ nicht funktionierte, hielt auch Sinkovicz für ein „böswilliges Gerücht“: „Nicht erst seit der Landnahme des 59-jährigen Dirigenten. Thielemann hat das Wiener Orchester im Sturm genommen, und das Publikum dazu.“ In seiner Kritik („Wenn Oberon und Titania in der Lobau walzen“) lobt Sinkovicz gerade die von Thielemann auch historisch berechtigten Querbezüge der Strauß’schen Musik zu Richard Wagner, der sich ja viel von der Wagner’schen Harmonik angeeignet hätte, „während man an der Hofoper nebenan“ an den Anforderungen der Wagner’schen Partitur gescheitert sei.

Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019 – Teil eins

Das Neujahrskonzert ist der erste kulturelle Höhepunkt des Jahres 2019. Erstmals stand der deutsche Stardirigent Christian Thielemann am Pult vor den Wiener Philharmonikern.

Wie viel Preuße war jetzt?

Auch die anderen Reaktionen im Feuilleton fielen mehr als jubilierend zum Dirigat des Chefs der Dresdner Staatskapelle aus. „Wiener Walzer mit preußischem Kommando“ urteilte Michael Wruss in den „Oberösterreichischen Nachrichten“ und lobte die „nüchterne Lesart“ Thielemanns.

„Im Vergleich zu vergangenen Konzerten, wo die Dirigenten intensiv an der Klangfarbenpalette gedreht und mit ungewohnten Lesarten eine interessante Balance zwischen den Stimmen hervorgezaubert hatten, blieb Thielmann eher bei einem zweifelsohne höchst eleganten Pauschalklang und stürzte sich mehr auf die rhythmische Komponente“, so das Urteil.

Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019 – Teil zwei

Der zweite Teil des Neujahrskonzerts – mit den Klassikern „An der blauen Donau“ und dem „Radetzkymarsch“ im Finale. Und dem traditionellen Gruß der Philharmoniker an die Welt.

„Keine Weichzeicheneffekte“

Um „perfekte Proportion“ sei es Thielemann in seiner Auslegung des Wiener Schönheitsbegriffs gegangen, befand Karlheinz Roschitz in der „Kronen Zeitung“. Wo Riccardo Muti auf „Weichzeicheneffekte“ setze, gehe es Thielemann um „analytische Strenge“. Thielemann hätte „alles Preußische“ abgelegt und den Hang zur „Wiener Schwere“ beim Ton gerade in den Operettenpartien gut in der Mitte getroffen. Thielemann habe „seine Magie des Wienerischen“ gefunden, so der Befund.

Hörtipp:

Das Ö1-„Intermezzo“ mit Christian Thielemann über „die große Wirkung der kleinen Geste“ – mehr dazu in oe1.ORF.at.

Neujahrskonzert zum Nachhören in oe1.ORF.at.

Am Samstag um 20.15 Uhr wird das Neujahrskonzert auf 3sat nochmal gezeigt und am Sonntag um 10.00 Uhr in der „matinee“ auf ORF 2.

„Walzer, Marsch!“ titelte der „Kurier“, und Wagner-Fan Gert Korentschnig fand „dieses Neujahrskonzert in jeder Hinsicht einzigartig“. Einzigartige Präzision und einzigartiger Farbenklang, „aber auch einzigartig streng, zackig, geradezu preußisch“. Die leichte Wiener Unverbindlichkeit sei auf der Strecke geblieben – aber, wie der Kritiker urteilte, auch zur Entdeckung einer neuen Handschrift in der Umsetzung der bekannten Werke. „Noch nie war Wien so nah an Berlin und Dresden“, so das Fazit, das die Eigenheit gerade auch dieses Neujahrskonzerts beschwört.

„Keine Note beiläufig nehmen“

„Keine Note beiläufig nehmen“, das findet schließlich auch die Zustimmung von Ljubisa Tosic im „Standard“, der Thielemanns Zug zur Ästhetik des intensiven Ausdrucks bei Beibehaltung der „feinen Dosierung“ lobt. Eigentlich habe Thielemann dem Orchester viel Freiraum gelassen – doch auch diese Kritik bemerkt wohlwollend, dass die Wiener unter dem Maestro aus Deutschland eben nicht in ihr bekanntes Strauß-Fahrwasser abdriften.

Hitzig lief die Diskussionen über Thielemann auf Twitter: Die Fans jubilierten – die anderen wollten auch an diesem Neujahrskonzert sehen, was man sehen wollte, und meinten vor allem deutliche politische Zeichensetzungen zu erkennen. Dem „Radetzkymarsch“ samt den jubilierenden Obertönen war dieses Gezwitscher relativ wurscht.