Mann hält Dominostein
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Insight Austria

Nudging-Unit will Österreicher „anstupsen“

Die Nudging-Bewegung erfreut sich in der Politik großer Beliebtheit. Mit kleinen Anreizen soll das Verhalten des Menschen verändert werden – ganz ohne Einsatz von Appellen und Verboten. Seit einem Jahr baut das Institut für Höhere Studien (IHS) das Kompetenzzentrum Insight Austria auf, das die Bürger „anstupsen“ will und auch die Politik beraten könnte.

Nudging ist nicht neu. Als berühmtestes Beispiel gilt die Pissoirfliege, die 1999 auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam aufgetaucht ist und die Verschmutzung, also auch Reinigungskosten, reduziert hat. Der Grund: Der Mann hatte nun eine „Zielscheibe“, auf die er zielen konnte. Auch hierzulande ist die Fliege, die durch andere Objekte ersetzt werden kann (in Discos sind kleine Fußballtore beliebt), nicht unbekannt. Allerdings scheiterten bisher Versuche, Nudging auch im öffentlichen Bereich zu etablieren bzw. damit Politik zu machen.

In anderen Staaten sind die Instrumente der Verhaltensforschung seit Jahren fester Bestandteil in der Politik. Seit 2010 lenkt die inzwischen teilstaatliche Expertengruppe Behavioural Insights die Briten zu „besseren Entscheidungen“. In den USA preschte Barack Obama im Jahr zuvor mit einer eigenen Nudge-Unit im Weißen Haus vor. Und in Berlin installierte Kanzlerin Angela Merkel vor vier Jahren das Referat namens „wirksam regieren“ im Bundeskanzleramt. Die Units bauen auf jene Methoden auf, die sich seit jeher im Marketing bewährt haben.

Dem Marketing das Feld streitig machen

Seit vergangenem Jahr besteht nun am IHS das Kompetenzzentrum Insight Austria. Finanziell wird das Team, darunter IHS-Direktor Martin Kocher, unter anderem vom Finanzministerium und von der Industriellenvereinigung (IV) unterstützt. Man arbeite aber unabhängig, so Kocher im Gespräch mit ORF.at. Denn im Gegensatz zu anderen Nudging-Units, die entweder „beim Regierungschef“ sitzen oder in der Verwaltung eingegliedert sind, ist Insight Austria an einer Forschungsinstitution beheimatet.

Das Team sei laut Kocher allerdings kein reines Nudging-Team. Es soll sowohl Forschung betreiben als auch wirtschaftspolitische Beratung anbieten. Allen voran steht dabei der öffentliche Bereich im Fokus. „Es ist schon seltsam, dass man im privaten Sektor schon lange die Instrumente der Verhaltensforschung nutzt, und das oft nicht im Interesse der Betroffenen“, sagte der IHS-Direktor. Deshalb konzentriere man sich auf den öffentlichen Bereich, wo auch Nudging „fast immer im Interesse des Betroffenen“ angewandt wird.

Derzeit arbeite Insight Austria, wo auch die frühere Familienministerin Sophie Karmasin tätig ist, an einem Projekt mit der Uni Wien. Man will herausfinden, wie man Studierende mit bestimmten Anreizen dazu bringen kann, ihr Studium nicht abzubrechen. Ergebnisse dazu sollen nächstes Jahr präsentiert werden. Aber, das schickte Kocher voraus, es werde sich um „milde Interventionen“ handeln. „Zum Beispiel kann man Informationen darüber geben, wie hoch der Verdienst ist, wenn ich das Studium fortführe oder wenn ich es abbreche“, so Kocher.

„Schwäche der Menschen ausnutzen“

Diese „milde Interventionen“ sind aber nicht unumstritten. Uneins sind sich Befürworter und Kritiker darüber, was die Absicht hinter Nudging ist. Für Anhänger ist klar, dass der Einzelne mit „positiven Schubsern“ Entscheidungen trifft, die ihm und der Gesellschaft guttun: gesünder essen, mehr bewegen, umweltfreundlicher leben, rechtzeitig Steuern zahlen. Menschen handeln nämlich nicht immer rational, sondern – so beschreibt es etwa der Psychologe Daniel Kahneman – emotional und intuitiv. Das führe häufig zu schlechten Entscheidungen.

Für den Soziologen Karl Kollmann ist Nudging jedoch nichts anderes „als der Versuch, die Schwächen der Menschen auszunutzen“, um sie zu „Stück für Stück zu konditionieren“. Dem Konsumentenschützer, der für die Arbeiterkammer (AK) publiziert hat, geht die Forschung eindeutig zu weit. „Heute werden Ergebnisse der Verhaltensökonomie, die im Grunde nichts anderes macht, als Experimente der Behavioristen der 50er Jahre ausgefeilter im Labor zu wiederholen, benutzt, um Menschen zu manipulieren“, sagte Kollmann im ORF.at-Gespräch.

Mit seiner Kritik steht Kollmann freilich nicht alleine da. Der Staat, so die Gegner, wolle seine Bürger umerziehen, damit sie genau das tun, was die Politik will. Das sei ein Eingriff in die Entscheidungsfreiheit und Privatsphäre des Menschen. Kollmann will aber nicht missverstanden werden. Auch er möchte, dass gute Entscheidungen getroffen werden. Aber nicht mit Hilfe „intransparenter“ Tricks des Marketing, die die Gesellschaft entmündige. „Verbraucherbildung und Wirtschaftsbildung in der Schule, da sollte man ansetzen“, betonte er, „sapere aude.“

Der perfekte Nudge

Intransparenz? Entmündigung? Mit dieser Kritik kann Erich Kirchler, Wirtschaftspsychologe an der Uni Wien, wenig anfangen. Gelenkt, so Kirchler gegenüber ORF.at, werde man überall, die Frage sei, ob das Ergebnis ethisch vertretbar ist. Von Kritikern werde meist vergessen, dass Nudging gemäß seinen Pionieren, den US-Wissenschaftlern Richard Thaler und Cass Sunstein, transparent sein muss. Außerdem solle „zum Wohl des Einzelnen genudgt werden. Und: Der Mensch kann sich immer gegen den Nudge entscheiden“, sagte der Wissenschaftler, der sich selbst zu den Nudging-Befürwortern zählt.

Kirchler war wie IHS-Direktor Kocher Teil der Initiative „Motivierender Staat“, die 2015 von Teilen der damaligen Regierung ins Leben gerufen wurde, aber schließlich im Sand verlaufen ist. Mit Nudging beschäftigt sich Kirchler aber weiterhin, allen voran theoretisch. „Einfach, attraktiv, sozial relevant und zeitlich klug“, sagte er. So sollte der Anreiz, der den Menschen schließlich lenken soll, aufgebaut sein. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihm ein Display, das eine Schweizer Firma für Duschen herstellt.

Auf dem kleinen Bildschirm ist ein Eisbär auf einer Eisscholle zu sehen. „Je länger und heißer man duscht, desto schneller schmilzt die Eisscholle, und der Eisbär fällt ins Wasser“, beschrieb Kirchler das Produkt. Man werde spielerisch dazu gebracht, nur so lange zu duschen, dass der Eisbär nicht ins Wasser fällt. Dieser Nudge soll zu Energiesparen anregen, so Kirchler. Die effektivsten Anreize seien aber Voreinstellungen. Ein Beispiel: In Firmen kann Papier gespart werden, wenn per Voreinstellung der beidseitige Druck definiert ist.

Kulturelle Unterschiede

Gegen diesen Automatismus werden wohl die wenigsten Menschen etwas einwenden. Aber wie sieht es zum Beispiel bei der Organspende aus? Hierzulande ist man Organspender, solange zu Lebzeiten nicht widersprochen wird. In Deutschland, wo man sich aktiv als Spender eintragen muss, wird seit Monaten diskutiert, die österreichische Widerspruchslösung einzuführen. Doch dagegen gibt es Widerstand. Auch bei anderen Themen, auf die Nudging abzielt, scheiden sich die Geister. „Es gibt kulturelle Unterschiede. Etwas, das in Italien funktioniert, kann in Ungarn scheitern“, so Kirchler.

Bücherhinweis

  • Richard Thaler, Cass Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Econ Verlag, 400 Seiten.
  • Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler Verlag, 624 Seiten.

Das bestätigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2016. In sechs Ländern wurde die Einstellung gegenüber Nudging im Gesundheitsbereich abgefragt. Ein Ergebnis lautet: Während in Dänemark und Ungarn die Mehrheit Anreize gegen Rauchen negativ sieht, goutiert das Gros der Italiener diesen Nudging-Versuch. In allen Ländern spricht man sich hingegen für Beeinflussung aus, die das Risiko von Fettleibigkeit bei Kindern reduzieren soll. Nudging im Gesundheitsbereich, so heißt es im Fazit, werde quer durch Europa unterstützt. An der Studie war übrigens auch Nudging-Pionier Sunstein beteiligt.

Schnitzel oder doch Gemüse?

Aber auch wenn die Beeinflussung gut gemeint ist, sei das noch immer Manipulation, sagte Kritiker Kollmann. „Wenn die Betriebskantine das Schnitzel hinter dem Gemüse versteckt, nur damit wir uns so ernähren, wie es jemand für richtig hält, dann machen Sie es nicht aus freien Stücken“, so der Soziologe. Wirtschaftspsychologe Kirchler hingegen sieht das anders und widerspricht: „Niemand wird gezwungen, das Gemüse zu essen. Jeder kann zum Schnitzel greifen.“

Ob sich die Experten und Expertinnen von Insight Austria künftig auch mit Männerpissoirs und Schnitzeln beschäftigen werden, ist unklar. Aufträge gebe es derzeit einige, sagte IHS-Direktor Kocher. Mit zwei Universitäten in Australien arbeite man zusammen, um herauszufinden, wie man Kinder dazu bringt, rechtzeitig für Tests zu lernen. Insight Austria sei aber nun einmal ein dreijähriger Versuch, so Kocher. Danach werde man eine Bilanz ziehen. Und wenn das Interesse nicht groß genug ist, müsse man das Projekt auslaufen lassen.