Erich Kirchler, Wirtschaftspsychologe Uni Wien
ORF.at/Jürgen Klatzer
Befürworter

„Gelenkt werden wir überall“

Für den Wirtschaftspsychologen Erich Kirchler von der Uni Wien ist Nudging eine sinnvolle Methode. Aber wer möchte, dass die Gesellschaft bessere Entscheidungen trifft, muss über die Motive und das Verhalten des Menschen Bescheid wissen. Denn gelenkt, so Kirchler, werden wir überall. Entscheidend sei, ob das Ziel ethisch vertretbar ist.

ORF.at: Herr Kirchler, wieso befürworten Sie den Nudging-Ansatz?

Erich Kirchler: Aus unzähligen Forschungsarbeiten wissen wir, dass Menschen im Alltag oft sehr spontan und intuitiv entscheiden. Ein Nutzenmaximum ist meist nicht möglich, was doch suboptimal für den Einzelnen und die Gesellschaft ist. Mit einem Nudge könnte man dem etwas entgegentreten.

ORF.at: Was genau verstehen Sie unter einem Nudge? Kritiker sprechen von Manipulation, Befürworter vom Stupser für den guten Zweck.

Kirchler: Es ist im Grunde sehr einfach: Ein Nudge ist eine Information, die unser Verhalten in eine Richtung lenken soll. Menschen werden durch Anreize zu einem bestimmten Verhalten angeregt. In Dänemark wurden etwa im öffentlichen Raum grüne Fußabdrücke auf Straßen angebracht, die Richtung Mistkübel führen, und tatsächlich wurde mehr Abfall in die bereitstehenden Kübel geworfen.

Oder auf einigen Autobahnen in Australien, wo Abfall aus dem Autofenster geworfen wird, stellte die Behörde in regelmäßigen Abständen ein „Fußballtor“ auf mit der Aufschrift „Zielen Sie mit Ihrem Abfall genau in das Tor hinein“. Entsprechend weniger Abfall war entlang der Autobahn zu entsorgen. Es sind oft kostengünstige Kleinigkeiten mit viel Wirkung.

ORF.at: Und der Manipulationsvorwurf?

Kirchler: Natürlich kann ein Anreiz mit Handlungsanweisung so oder so verwendet werden. Gelenkt werden wir überall, die Frage ist, ob das Ergebnis ethisch vertretbar ist. Die Werbung manipuliert Kunden für ihre Interessen, also damit ein Produkt oder eine Dienstleistung gekauft wird. Der Staat kann Nudging aber dafür verwenden, damit Menschen die für sie und für die Gesellschaft bessere Entscheidung treffen.

Von Kritikern wird ja meist vergessen, dass die Autoren des Buchs „Nudge“, die Pioniere auf dem Gebiet Richard Thaler und Cass Sunstein, an drei Prinzipien festhalten: Es soll zum Wohle des Einzelnen genudgt werden. Nudging muss immer transparent sein. Und: Der Mensch kann sich immer gegen den Nudge entscheiden.

ORF.at: Sie waren auch Schirmherr beim ersten Nudging-Projekt der Bundesregierung (vier ÖVP-Ministerien beteiligten sich, Anm.) im Jahr 2015. Wie muss ein Nudge aufgebaut sein, damit Menschen den grünen Fußabdrücken zur Mülltonne folgen?

Kirchler: In Großbritannien entwickelte das Nudging-Team der Regierung vier Handlungsempfehlungen: Verhaltensanreize sollten einfach, attraktiv, sozial relevant sein und zeitlich klug eingesetzt werden. Diese Prinzipien werden auch im Buch von Thaler und Sunstein erwähnt.

Am einfachsten ist es, wenn ein Nudge bereits als Voreinstellung installiert wurde. In Österreich ist jeder Organspender, solange nicht widersprochen wird. In Unternehmen könnte man sich darauf einigen, das beidseitige Drucken als standardmäßige Voreinstellung zu definieren. Das würde schon einen kleinen Beitrag dazu leisten, weniger Papier zu verschwenden.

ORF.at: Und wie müssten die Nudges definiert sein, um attraktiv sein?

Kirchler: Attraktiv meint Aufmerksamkeit erregen und etwa den spielerischen Umgang mit der Müllentsorgung. Dazu zählen unter anderem die Tore am Straßenrand. Ein sehr guter Nudge ist meiner Meinung nach ein Produkt einer Schweizer Firma, die Displays für Duschen herstellt, auf denen ein Eisbär auf einer Eisscholle zu sehen ist.

Je länger und heißer man duscht, desto schneller schmilzt die Eisscholle, und der Eisbär fällt ins Wasser. Leute wurden spielerisch dazu gebracht, nur so lange zu duschen, dass der Eisbär nicht ins Wasser fällt. Jeder hat die Möglichkeit, länger zu duschen, aber durch den Eisbären und die schmelzende Eisscholle wird man über den eigenen Energieverbrauch informiert.

ORF.at: Wären solche Displays nicht effizienter, wenn sie nicht beim einzelnen Individuum, sondern bei Unternehmen installiert werden, die große Mengen Schadstoffe ausstoßen?

Ja, das ist natürlich ein Thema. Aber hier gibt es noch viel zu tun. Gerade bei Großunternehmen sind Nudges oft schwierig umsetzbar. Aber wenn Sie wollen, dass der Energieverbrauch kontrolliert wird, ist der erste Schritt, die Menschen über ihren eigenen Energieverbrauch zu informieren.

Aber es ist, wie schon gesagt, wichtig, Entscheidungen immer libertär-paternalistisch zu gestalten. Wenn wir wollen, dass sich Menschen gesund ernähren, ist es sinnvoll, in der Kantine Gemüse und Salate in der ersten Reihe des Buffets zu platzieren und weniger gesunde Produkte in der zweiten. Es wird aber niemand gezwungen, das Gemüse zu essen. Jeder kann auch zum Schnitzel greifen.

ORF.at: Sozial relevant wäre es dann wohl, wenn alle zum Apfel greifen.

Kirchler: Wenn Menschen wissen, dass die Mehrheit zum Apfel greift, wird auch der Einzelne eher zum Apfel greifen, weil Sozialverhalten nachgeahmt wird. Der Hinweis auf das angebliche oder tatsächliche Verhalten der Mehrheit aktiviert unter anderem den Wunsch dazuzugehören. Und zeitlich klug bedeutet, dass der Nudge dann gesetzt wird, wenn Menschen dafür eher empfänglich sind.

ORF.at: Dass ein Unternehmen oder gar der Staat gerne Anreize verwendet, um Menschen zu lenken, scheint für die meisten logisch. Aber wollen Menschen genudgt werden?

Kirchler: Ob sie das generell wollen, weiß ich nicht. Es gibt aber eine Untersuchung aus dem Jahr 2016, wo die Akzeptanz von Nudging im Gesundheitsbereich in sechs Staaten (Italien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Ungarn und Dänemark, Anm.) abgefragt wurde.

Während sich alle Staaten für Nudging aussprechen, das auf Prävention für Fettleibigkeit abzielt, sieht die Mehrheit der Befragten in Dänemark und Ungarn Anreize gegen das Rauchen negativ. In Italien ist die Zustimmung dafür sehr hoch. Es gibt also kulturelle Unterschiede. Etwas, das in Italien funktioniert, kann in Ungarn scheitern.

ORF.at: Und wenn der Staat den Nudge trotzdem anbietet?

Kirchler: Sagen wir es so: Bevor ein Nudge gesetzt wird, sollte schon Wissen über das Verhalten und die Motive von Menschen und über Anreize, die zu diesem Verhalten führen, vorhanden sein. Und in der Verhaltensforschung gibt es dieses Wissen.

Es geht doch darum, gewisse Hürden für vernünftige Entscheidung zu beseitigen. Hilfreich wäre schon, wenn Formulare so gestaltet werden, damit sie für alle Menschen verständlicher sind. Viele füllen teils wichtige Formulare nicht aus, weil sie zu komplex sind.