Bundeskanzler Kurz in der ORF-Pressestunde
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ORF-„Pressestunde“

Kurz bleibt bei Kritik an Wien

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat am Sonntag in der ORF-„Pressestunde“ die Regierungsposition zur Mindestsicherung verteidigt – und seine Kritik an Wien erneuert. Von den Seitenhieben der FPÖ in Richtung der Hilfsorganisation Caritas halte er aber „gar nichts“. Auch die Steuerreform und der umstrittene EU-Ratsvorsitz waren Thema.

Kurz erklärte, er habe ein Problem mit dem Wiener Modell, in dem immer mehr Menschen „in Abhängigkeit“ gehalten würden. Wenn sich die SPÖ durch Kritik „ertappt“ fühle, dann werde statt einer Sachdiskussion eine „Welle der Empörung“ erzeugt. Und er bekräftigte, dass es Familien gebe, wo niemand arbeiten gehe und nur die Kinder in der Früh aufstehen, um teils ohne Frühstück in die Schule zu gehen.

Der Bundeskanzler verwies darauf, dass die Arbeitslosigkeit in Wien bei 13 Prozent liege, 15.000 Menschen obdachlos seien und jeder zweite Mindestsicherungsbezieher Ausländer sei. Die aktuellen Daten zeigen jedoch auch, dass die Zahl der Arbeitslosen – also der als arbeitslos gemeldeten Personen sowie jener in Schulungen – in Wien im Dezember im Vergleich zum Dezember 2017 um 4,6 Prozent gesunken ist. Und auch heuer rechnet das AMS mit einem leichten Rückgang. Erst kürzlich kündigte die Stadt Wien an, das Vorhaben des Bundes in puncto Mindestsicherung nicht durchsetzen zu wollen, und sorgte damit für einen Eklat.

Kritik an „aggressiver Wortwahl“ der FPÖ

Die Pläne für die Mindestsicherung verteidigte er mit dem Beispiel einer fünfköpfigen Familie, deren Vater als Verkäufer arbeitet. Am Ende des Monats würden dieser inklusive aller Leistungen 2.500 Euro netto zum Leben bleiben. Zum Vergleich brachte er eine fünfköpfige Flüchtlingsfamilie, die Mindestsicherung bezieht und so auf 2.660 Euro pro Monat kommt. „Jemand, der arbeiten geht, soll besser aussteigen als jemand, der nicht arbeiten geht“, so Kurz. Anders sei das „Gift für unsere Gesellschaft“.

Bundeskanzler Kurz in der ORF-Pressestunde
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Sebastian Kurz (ÖVP) im Gespräch mit Hans Bürger (ORF) und Hubert Patterer („Kleine Zeitung“)

„Ich halte nichts von der aggressiven Wortwahl und habe das dem Koalitionspartner auch gesagt“, so Kurz, angesprochen auf die FPÖ-Kritik an der Caritas. Der Bundeskanzler reagierte damit erstmals offiziell auf den Streit zwischen der FPÖ und der Hilfsorganisation. Dabei wurde dieser von FPÖ-Seite etwa „Profitgier“ vorgeworfen sowie die Beteiligung an einer „Asylindustrie“.

Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Wien und neue Mindestsicherung

Bundeskanzler Kurz bekräftigt seine Kritik an Wien, wonach dort immer weniger Menschen in der Früh aufstehen würden, um arbeiten zu gehen.

Als „Richter“ oder „Chefkommentator“ sehe er sich aber nicht, sagte Kurz und erklärte damit, weshalb er zuvor noch nicht Stellung genommen hatte. Zur Kritik und insbesondere der Aussage von Caritas-Präsident Michael Landau sagte Kurz, es stimme nicht, dass ein Kind mit 43 Euro auskommen müsse, auch wenn die Mindestsicherung das ab dem dritten Kind vorsieht.

Kurz: Details zur Steuerreform kommen rechtzeitig

Zur Steuerreform kündigte der Bundeskanzler an, dass rechtzeitig alle Details genannt würden. Im April muss der Budgetplan nach Brüssel gemeldet und im Herbst soll ein Doppelbudget beschlossen werden. Dass die Abschaffung der kalten Progression erst 2022 beschlossen und 2023 in Kraft treten soll, verteidigte Kurz damit, dass davon vor allem Gutverdiener profitierten und die Regierung zuerst Kleinverdiener entlasten wolle.

Die Steuerreform werde es ohne neue Schulden geben, das sei in den letzten 60 Jahren nicht gelungen, so Kurz. Außerdem werde es keine neuen Steuern für die arbeitenden Menschen geben. Voraussetzung sei aber, dass in allen Ministerien die Kosten und Ausgaben weiter gesenkt werden. Außerdem soll das tatsächliche Pensionsalter Kurz zufolge weiter an das gesetzliche herangeführt werden. Konkrete Maßnahmen nannte er nicht.

Bei Migration auf „sehr gutem Weg“

Für viel Kritik an der Regierung sorgten zuvor auch die im Zuge der Ratspräsidentschaft unerfüllten Versprechen zur Migrationspolitik. So sollte die Grenzschutzbehörde Frontex aufgestockt werden sowie ein Partner für Anlandeplattformen in Nordafrika gefunden werden. Beide Vorhaben scheiterten jedoch.

Bundeskanzler Kurz in der ORF-Pressestunde
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Zur Steuerreform kündigte Kurz an, dass rechtzeitig alle Details genannt würden

„Wir sind auf einem sehr guten Weg“, das Migrationsproblem zu lösen, findet Kurz. Die Richtung stimme zu hundert Prozent, es gebe kaum noch Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, und die Zahl der Anlandungen in Europa sei um 95 Prozent zurückgegangen. Das Konzept, die Menschen vor den Küsten Afrikas zu retten und sie dann dorthin zurück und nicht nach Europa zu bringen, funktioniere. Ägypten mache das bereits, und seither mache sich von dort niemand mehr auf den Weg, und es ertrinke niemand mehr. „Schade“ sei es, dass Staaten wie Griechenland, Spanien und Italien sich gegen die Frontex-Aufstockung ausgesprochen haben.

Bekanntgabe des Spitzenkandidaten für EU-Wahl

Für die EU-Wahl im Mai wird die ÖVP laut Kurz ihre Liste noch im Jänner oder Februar präsentieren. Er unterstrich, dass es ein Vorzugsstimmensystem geben werde. Ob sich ein Regierungsmitglied auf der Liste befinden werde, beantwortet Kurz mit einem „vielleicht, vielleicht auch nicht“. Einen Spitzenkandidaten werde es geben, wies Kurz anderslautende Gerüchte zurück.

Eine Zusammenarbeit der FPÖ mit Rechtsparteien im Europaparlament ist für Kurz kein Problem. Eine rote Linie sei aber das Regierungsprogramm, das eine proeuropäische Ausrichtung der Koalition vorsehe. Für die ÖVP betonte Kurz, dass es im Europaparlament keine Zusammenarbeit mit Rechtsparteien geben werde, wohl aber mit Liberalen und Sozialdemokraten.

Heftige Kritik der Opposition

Kritik an Kurz übten nach der „Pressestunde“ SPÖ, NEOS und Jetzt. Für SPÖ-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda ist die Steuerreform „zu wenig, zu spät, zu unambitioniert“. Die Entlastung um drei Milliarden Euro für die Arbeitnehmer reiche nicht aus, weil sie durch die kalte Progression bis 2021 vier Mrd. Euro verlieren würden. Drozda fordert 80 Prozent des Entlastungsvolumens für die Arbeitnehmer.

Jetzt-Klubobmann Bruno Rossmann warf Kurz und der Regierung darüber hinaus Unehrlichkeit vor. Aus den Budgetprognosen des WIFO lasse sich ableiten, dass es 2022 eine Finanzierungslücke von über zwei Mrd. Euro geben werde. Wenn keine neuen Schulden gemacht und Steuern nicht erhöht werden sollen, dann müssten Ausgaben gekürzt werden.

Der stellvertretende SP-Klubchef Jörg Leichtfried zeigte sich „wirklich entsetzt“, weil Kurz die „Beleidigung für die österreichischen Mamas und Papas“, die arbeitslos seien, nicht zurückgenommen habe. Der stellvertretende NEOS-Klubobmann Niki Scherak sieht in dem „unsäglichen Statement“ von Kurz ebenfalls eine Beleidigung für viele Menschen. Dass Arbeit etwas wert sein müsse, sei zwar richtig, die Regierung trage mit ihrem Konzept für die neue Mindestsicherung aber nicht zu einer größeren Erwerbsarbeit bei.