Kugelschreiber liegt auf einem Antrag auf Mindestsicherung
ORF.at/Christian Öser
Verteilungsdebatte

Fakten und Mythen zur Mindestsicherung

In der öffentlichen Debatte entsteht der Eindruck, dass es zahllose faule, arbeitslose Mindestsicherungsbezieher gibt, die von jenen, die sich abmühen, durchgefüttert werden. Doch die Bundesregierung hantiert teils mit falschen Fakten.

Die Mindestsicherung wird als Leistung der öffentlichen Hand von Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen gewährleistet. Dass die arbeitende Bevölkerung viel in den ganzen großen Topf einzahlt, den das Budget ausmacht, ist klar. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit – eine Volkswirtschaft ist weitaus komplexer, als dass so vereinfachende Aussagen getätigt werden könnten.

Die Rechnung, dass eins zu eins die arbeitende Bevölkerung die nicht Arbeitenden querfinanziert, muss relativiert werden, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens zahlen alle in den Steuertopf ein – auch jene, die nicht arbeiten gehen, etwa in Form der Mehrwertsteuer beim Einkaufen. Je ärmer die Menschen, desto größer ist tendenziell der Anteil ihres Gesamteinkommens, den sie für Konsum aufwenden – denn zum Sparen oder Veranlagen fehlt das Geld.

Grafik: Säulengrafik über Bezieher von Mindestsicherung
Grafik: APA/ORF.at, Quelle: APA/Statistik Austria

Die „Fleißigen“ und die „Faulen“

Davon abgesehen ist es etwas mehr als ein Drittel der Steuereinnahmen, das durch Einkommens- und Lohnsteuer zusammenkommt. Die neuen Zahlen liegen noch nicht vor. Aber anberaumt waren für 2018 4,1 Milliarden Euro an Staatseinnahmen durch die Einkommens- und 27 Milliarden durch die Lohnsteuer. Insgesamt wurde brutto mit Steuereinnahmen von mehr als 86 Milliarden Euro gerechnet. 36 Prozent der Steuereinnahmen werden also von Angestellten und Selbständigen direkt als Teil von ihrem Arbeitseinkommen abgeliefert und von niemandem sonst.

81 Euro pro Person und Jahr

Die Ausgaben für die Mindestsicherung lagen 2017 österreichweit laut Statistik Austria insgesamt bei 977 Millionen Euro, also bei einer knappen Milliarde. Legt man das Budget für die Mindestsicherung auf das Gesamtbudget des Staates um, werden 36 Prozent von diesen 977 Millionen Euro durch Einkommens- und Lohnsteuer finanziert, das sind 351 Millionen Euro.

Im Jahresdurchschnitt 2017 gab es in Österreich 4,3 Millionen Erwerbstätige. Dividiert man die 351 Millionen Euro, die für die Mindestsicherung durch Einkommens- und Lohnsteuer zusammenkommen, durch die Zahl der Erwerbstätigen, kommt man auf 81 Euro pro Person und Jahr, die sich durch Abgaben auf die Arbeitskraft ergeben. Insgesamt finanzierten 4,3 Millionen Erwerbstätige 2017 knapp 308.000 Mindestsicherungsbezieherinnen und -bezieher mit.

Beitrag inklusive Faktencheck

Das Tauziehen zwischen Wien und der Bundesregierung geht weiter. Kritik kommt aber auch von anderen Bundesländern und der Bischofskonferenz.

Längst nicht nur Arbeitslose betroffen

Sind die knapp 308.000 Mindestsicherungsbezieherinnen und -bezieher nun alle untätig? So kann man das jedenfalls nicht sagen. 35,2 Prozent von ihnen sind Kinder. Weitere 31,2 Prozent sind Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigte (also Flüchtlinge), und die werden (außer in ganz wenigen Ausnahmefällen) nicht vermittelt, wenn sie nicht ein bestimmtes Niveau an Deutsch erreicht haben. Bei den Deutschkursen gab es in den letzten Jahren aber einen „Stau“.

Die „Fake News“ konkret

Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wurde am Freitag letzter Woche am Rande der Regierungsklausur in Mauerbach mit Wien-Kritik in indirekter Rede von der APA zitiert: „Denn wenn man sozial sei, sollte man ein Interesse daran haben, dass die Menschen arbeiten und nicht immer mehr Menschen Mindestsicherung beziehen“, so Kurz. Dazu der Faktencheck: In Wien ist die Zahl der Mindestsicherungsbezieher im Dezember 2018 im Jahresvergleich leicht gesunken – von 131.415 auf 130.746. Von 2016 auf 2017 stagnierte sie nahezu, gestiegen war sie – allerdings in ganz Österreich – in den Jahren davor (siehe Grafik).

Wiens Sozialstadtrat Hacker zur Mindestsicherung

Der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) bekräftigt seine Kritik an der geplanten Mindestsicherungsreform.

Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) sagte ebenfalls bei der Regierungsklausur in Mauerbach laut APA: „(…) eine rot-grüne Stadtregierung, die offensiv für ein Förderungsprogramm für tschetschenische Großfamilien eintritt.“ FPÖ-Regierungskoordinator Norbert Hofer stellte in der ZIB2 am Sonntagabend in den Raum, dass in Wien 30.000 Tschetschenen Mindestsicherung beziehen.

Dazu der Faktencheck: Mit Stand Dezember bezogen 4.500 Personen aus der gesamten Russischen Föderation in Wien Mindestsicherung – und diese 4.500 sind nicht alle Tschetschenen. Deren Zahl wird nicht gesondert ausgewiesen.

Arm trotz Einkommens

Aber auch die grundsätzliche Kritik ist nicht korrekt, durch die nahegelegt wird, dass Mindestsicherungsbezieher faul sind. Denn bei jenen 33,6 Prozent, die keine Flüchtlinge oder Kinder sind, handelt es sich längst nicht nur um Arbeitslose. Denn insgesamt sind 70,5 Prozent der Mindestsicherungsbezieher „Aufstocker“. Das heißt, sie beziehen Geld aus anderen Quellen, aber weniger als die rund 850 Euro, die man maximal als Mindestsicherung beziehen kann. Die Differenz wird dann aufgestockt.

Die „Aufstocker“ sind nicht nur Menschen, die Teilzeit arbeiten, sondern auch Pensionistinnen und Pensionisten, deren Pensionszahlungen zum Überleben nicht reichen. Gerade ihnen wird niemand vorwerfen, sich in der sozialen Hängematte auszuruhen, aber auch sie sind Teil der Mindestsicherungsstatistik. Aber es ist kompliziert. Denn ein Teil der 70,5 Prozent der „Aufstocker“ ist trotzdem arbeitslos – und stockt das Arbeitslosengeld auf, wenn es weniger beträgt als die Höhe der Mindestsicherung.