Die britische Premierministerin Theresa May im House of Commons
APA/AFP/UK Parliament/Jessica Taylor
Brexit-Schlappe

May bleibt wenig Zeit für Lösung

Es ist eine schwere Niederlage für Großbritanniens Premierministerin Theresa May: Ihr Abkommen zum Ausstieg aus der EU ist am Dienstag mit überwältigender Mehrheit abgelehnt worden. Nun beginnt für die britische Regierung die schwierige Suche nach einer Lösung. Szenarien gibt es mehrere, doch zuerst steht der stark angeschlagenen May schon am Mittwoch ein Misstrauensvotum bevor.

„Es ist eindeutig, dass das Haus diesen Deal nicht unterstützt“, sagte May direkt im Anschluss an die Verkündung des verheerenden Ergebnisses. Nur 202 Abgeordnete stimmten für den von May ausgehandelten Deal, 432 stimmten dagegen – eine derart eindeutige Niederlage für einen Antrag der Regierung gab es noch nie, vergleichbare Ergebnisse zuletzt in den 1920ern, berichten BBC und der „Guardian“.

Labour-Chef Jeremy Corbin kündigte umgehend ein Misstrauensvotum an. Corbyn hatte bereits vor der Abstimmung seine Forderung nach einer umgehenden Neuwahl bekräftigt. Schon am Mittwoch werde darüber im Unterhaus debattiert werden, kündigte die Vorsitzende des Abgeordnetenhauses an. Um 20.00 Uhr (MEZ) soll es dann zur Abstimmung über Mays Zukunft kommen. Sie selbst schloss einen Rücktritt aus, wie ein Sprecher am Dienstagabend sagte.

Misstrauensvotum muss nicht Neuwahl bedeuten

Dass Corbyn sich mit dem Votum durchsetzen wird, gilt unter Beobachterinnen und Beobachtern als unwahrscheinlich. Dazu brauchte der Labour-Chef die Unterstützung von Rebellen aus dem Regierungslager oder der nordirischen DUP, von deren Stimmen die konservative Minderheitsregierung abhängig ist. Dass eine der beiden Seiten Corbyns Antrag stützt, wird nicht erwartet.

Doch selbst wenn May das Vertrauensvotum verliert, bedeutet das nicht automatisch eine Neuwahl. Das Unterhaus kann laut der Politologin Melanie Sully binnen zwei Wochen jemand anderem das Vertrauen aussprechen. Das könnte auch ein Konservativer Abgeordneter sein, so Sully gegenüber ORF.at.

Sollten sich die Abgeordneten für May aussprechen, so muss sich die angeschlagene Premierministerin nach einem möglichen Plan B umsehen – und diesen bis Montag vorlegen. Wie sie in ihrer Rede im Anschluss an die Abstimmung sagte, sage das Ergebnis nur aus, was das Abgeordnetenhaus nicht unterstütze, nicht aber, was es unterstütze. Sie wolle auch mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Parteien über eine „neue Vorgehensweise“ sprechen, ohne darauf einzugehen, wie diese aussehen könnte.

Labour-Parteichef Jeremy Corbyn im House of Commons
BBC
Labour-Chef Corbyn kündigte unmittelbar im Anschluss an die Abstimmung ein Misstrauensvotum an

Viele Szenarien von Abgeordneten gefordert

Die Vorstellungen gehen dabei weit auseinander – Abgeordnete fordern ein weiteres Referendum, eine Nachverhandlung des Abkommens, einen „harten“ Brexit ohne Abkommen oder gar einen Stopp des EU-Ausstiegs, wie etwa die BBC schreibt. Obwohl Großbritannien nach derzeitigem Stand noch immer am 29. März aus der EU austritt, ist die Frage nach der Art und ob der Zeitpunkt eingehalten werden kann, damit komplett ungeklärt. „Das Haus hat gesprochen, und die Regierung wird zuhören“, versprach May jedenfalls.

Ratlosigkeit nach Abstimmung

ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch erklärt, wie es in den nächsten Tagen in London weitergehen wird. Wie die EU auf die Abstimmung reagiert, berichtet ORF-Korrespondent Tim Cupal aus Brüssel.

EU will keine Nachverhandlungen

In der EU wurde am Dienstagabend das Ergebnis bedauert. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schrieb auf Twitter, er bedauere den Ausgang der Abstimmung. Gleichzeitig fordert er Klarheit: Das Vereinigte Königreich müsse seine Absichten so schnell wie möglich kundtun. „Die Zeit ist fast abgelaufen.“

In einem Statement schloss Juncker Nachverhandlungen mit London aus. „Dieses Abkommen ist und bleibt der beste und einzige Weg, einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union sicherzustellen“, so Juncker. „Wir werden unsere Vorbereitungen auf alle Szenarien fortsetzen, darunter auch für ein No-Deal-Szenario.“ Das Risiko eines ungeregelten Brexits sei mit der Abstimmung gestiegen, „und auch wenn wir das nicht wollen, werden wir vorbereitet sein“.

Kurz und Blümel sehen Ball bei London

Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk äußerte sich eher zurückhaltend zu Neuverhandlungen. Wenn ein Abkommen unmöglich sei, niemand aber einen Austritt ohne Vereinbarung wolle, „wer wird dann letztlich den Mut haben zu sagen, was die einzig positive Lösung ist?“, schrieb Tusk im Kurznachrichtendienst Twitter.

Klar ablehnend äußerte sich auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Er schloss Neuverhandlungen nach dem Scheitern des Brexit-Deals aus. Der Ball liege nun bei London, so Kurz. Er lobte den während der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft zustande gekommenen Deal als „sehr ausgeglichenes und faires Austrittsabkommen“ und betonte, dass sich die EU in den Verhandlungen „stets sehr engagiert“ habe. Europaminister Gernot Blümel (ÖVP) sagte in der ZIB2, er hoffe noch immer auf das Zustandekommen eines Deals, denn „das wäre das Beste für beide Seiten“.

Irland verstärkt Vorbereitung für „harten“ Brexit

Die irische Regierung will sich unterdessen intensiv auf einen Brexit ohne Abkommen vorbereiten. „Bedauerlicherweise hat der Ausgang der Abstimmung heute Abend das Risiko eines ungeordneten Brexits erhöht. Folglich wird die Regierung ihre Vorbereitungen auf ein solches Ergebnis weiter intensivieren“, hieß es in einer Erklärung.

Im Falle eines harten Brexits droht die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland. Irland will eine „harte Grenze“ verhindern, auch um das Karfreitagsabkommen von 1998 zu schützen. Das Abkommen hatte den jahrzehntelangen Konflikt zwischen irisch-katholischen Nationalisten und protestantischen Loyalisten beendet. Wesentlicher Bestandteil ist eine Grenze ohne Kontrollen zu Irland. Der „Backstop“, eine Notlösung, die sicherstellt, dass die Grenzen auch ohne Handelsabkommen offen bleiben, war zentraler Streitpunkt des von May ausgehandelten Abkommens.

Insider: Brexit-Aufschub und zweites Referendum

Am späten Abend wurde bekannt, dass britische Abgeordnete offenbar auf einen Aufschub des Ausstiegs aus der EU hinarbeiten. Einem Insider zufolge erarbeiten Abgeordnete einen Antrag, um das Brexit-Verfahren nach EU-Artikel 50 zu verlängern. Regierungsminister hätten solche Planspiele für einen Brexit-Aufschub gegenüber Spitzenvertretern der Wirtschaft geäußert, sagte eine an den Gesprächen beteiligte Person.

Der Nachrichtensender Sky berichtete unterdessen, dass sich schon am Mittwoch „bis zu 100 Labour-Abgeordnete“ offiziell für ein Referendum aussprechen werden. Der Druck auf Labour-Chef Corbyn, der bisher ein zweites Referendum ablehnte, dürfte diesbezüglich noch zunehmen, wenn das von ihm eingebrachte Misstrauensvotum gegen May erfolglos bleiben sollte.

Auch aus den Reihen der Konservativen gab es Stimmen für ein Referendum. Die Bürger sollten eine Chance bekommen, über den Deal, aber auch einen Verbleib in der EU abzustimmen, sagte der Tory-Mandatar Dominic Grieve.