Britische Premierministerin Theresa May
APA/AFP/Mark Duffy
Herbe Brexit-Niederlage

May steht Misstrauensvotum bevor

Nach der verheerenden Niederlage von Premierministerin Theresa May in der Abstimmung über den Brexit-Deal debattiert das britische Parlament am Mittwoch über einen Misstrauensantrag gegen die Regierung – abgestimmt wird am Abend. Oppositionschef Jeremy Corbyn hatte den Antrag unmittelbar nach der Ablehnung des mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Abkommens gestellt.

Die Abgeordneten ließen zuvor den Deal überraschend deutlich mit 432 zu 202 Stimmen durchfallen. „Es ist eindeutig, dass das Haus diesen Deal nicht unterstützt“, sagte May im Anschluss an die Verkündung des verheerenden Ergebnisses. Eine derart eindeutige Niederlage für einen Antrag einer britischen Regierung gab es noch nie, vergleichbare Ergebnisse zuletzt in den 1920ern, berichteten BBC und „Guardian“.

Vor dem Misstrauensvotum muss sich May den Abgeordneten auch noch in der wöchentlichen Fragestunde stellen. Chancen, die Regierung zu stürzen, werden dem Vorstoß der Opposition nicht eingeräumt. Dazu brauchte Corbyn die Unterstützung von Rebellen aus dem Regierungslager oder der nordirischen DUP, von deren Stimmen die konservative Minderheitsregierung abhängig ist.

Plan B am Montag

Dass eine der beiden Seiten Corbyns Antrag stützt, wird nicht erwartet. May hatte von sich aus vorgeschlagen, sich dem Misstrauensvotum zu stellen. Doch selbst wenn sie das Vertrauensvotum verliert, bedeutet das nicht automatisch eine Neuwahl. Das Unterhaus kann laut der Politologin Melanie Sully binnen zwei Wochen jemand anderem das Vertrauen aussprechen. Das könnte auch ein konservativer Abgeordneter sein, so Sully gegenüber ORF.at.

Grafik zeigt Daten zur Brexit-Abstimmung
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Guardian

Über „neue Vorgehensweise“ sprechen

Sollte sie das Votum wie erwartet überstehen, wolle sie sich mit Vertretern aller Parteien treffen, um einen Ausweg zu suchen. Bereits am Montag wolle sie dem Parlament dann einen Plan B vorlegen, wie es konkret weitergehen soll.

Wie sie in ihrer Rede im Anschluss an die Abstimmung sagte, sage das Ergebnis nur aus, was das Abgeordnetenhaus nicht unterstütze, nicht aber, was es unterstütze. Sie wolle auch mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Parteien über eine „neue Vorgehensweise“ sprechen, ohne darauf einzugehen, wie diese aussehen könnte.

Viele Szenarien von Abgeordneten gefordert

Die Vorstellungen gehen weit auseinander – Abgeordnete fordern ein weiteres Referendum, eine Nachverhandlung des Abkommens, einen „harten“ Brexit ohne Abkommen oder gar einen Stopp des EU-Ausstiegs, wie etwa die BBC schreibt. Obwohl Großbritannien nach derzeitigem Stand noch immer am 29. März aus der EU austritt, ist die Frage nach der Art und ob der Zeitpunkt eingehalten werden kann, damit komplett ungeklärt. „Das Haus hat gesprochen, und die Regierung wird zuhören“, versprach May jedenfalls.

Wie es in London und Paris weitergeht

Andreas Pfeifer und Raffaela Schaidreiter berichten aus London und Brüssel über die Ablehnung des Brexit-Abkommens und in weiterer Folge geplante Schritte.

Insider: Brexit-Aufschub und zweites Referendum

Am späten Abend wurde bekannt, dass britische Abgeordnete offenbar auf einen Aufschub des Ausstiegs aus der EU hinarbeiten. Einem Insider zufolge erarbeiten Abgeordnete einen Antrag, um das Brexit-Verfahren nach EU-Artikel 50 zu verlängern. Regierungsminister hätten solche Planspiele für einen Brexit-Aufschub gegenüber Spitzenvertretern der Wirtschaft geäußert, sagte eine an den Gesprächen beteiligte Person.

Der Nachrichtensender Sky berichtete unterdessen, dass sich schon am Mittwoch „bis zu hundert Labour-Abgeordnete“ offiziell für ein Referendum aussprechen werden. Der Druck auf Labour-Chef Corbyn, der bisher ein zweites Referendum ablehnte, dürfte diesbezüglich noch zunehmen, wenn das von ihm eingebrachte Misstrauensvotum gegen May erfolglos bleiben sollte. Auch aus den Reihen der Konservativen gab es Stimmen für ein Referendum. Die Bürger sollten eine Chance bekommen, über den Deal, aber auch einen Verbleib in der EU abzustimmen, sagte der Tory-Mandatar Dominic Grieve.

Irland verstärkt Vorbereitung auf „harten“ Brexit

Die irische Regierung will sich unterdessen intensiv auf einen Brexit ohne Abkommen vorbereiten. „Bedauerlicherweise hat der Ausgang der Abstimmung heute Abend das Risiko eines ungeordneten Brexits erhöht. Folglich wird die Regierung ihre Vorbereitungen auf ein solches Ergebnis weiter intensivieren“, hieß es in einer Erklärung.

Im Falle eines harten Brexits droht die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland. Irland will eine „harte Grenze“ verhindern, auch um das Karfreitagsabkommen von 1998 zu schützen. Das Abkommen hatte den jahrzehntelangen Konflikt zwischen irisch-katholischen Nationalisten und protestantischen Loyalisten beendet. Wesentlicher Bestandteil ist eine Grenze ohne Kontrollen zu Irland. Der „Backstop“, eine Notlösung, die sicherstellt, dass die Grenzen auch ohne Handelsabkommen offen bleiben, war zentraler Streitpunkt des von May ausgehandelten Abkommens.

Britische Presse: „Umfassende Demütigung“

Vernichtend fiel jedenfalls das Presseecho auf Mays historische Niederlage aus: „Eine umfassende Demütigung“, titelte am Mittwoch der „Daily Telegraph“, der wie praktisch alle Zeitungen darauf hinwies, dass noch kein britischer Premierminister eine größere Niederlage einstecken musste.

Der „Guardian“ nahm auf die angeschlagene Gefühlslage der Briten Bezug: „Eine fehlende Führung kann zu einem Gefühl der Panik führen, das von einer Regierung noch verstärkt wird, die Lebensmittel- und Medikamentenvorräte anlegt, als bereite sie sich auf einen Krieg vor. Wir müssen dem Chaos und der Spaltung ein Ende setzen, die so viel dazu beigetragen haben, unser Land zu entstellen.“

„Zerschmettert“

Die führende Boulevardzeitung „The Sun“ porträtierte May als ausgestorbenen Vogel „Dodo“ („Mays Brexit-Deal ist tot wie ein Dodo“) und schrieb in großen Lettern: „Brextinct“ (frei übersetzt: „brexgegangen“). „Kein Deal, keine Hoffnung, keine Ahnung, kein Vertrauen“, titelte der „Daily Mirror“ mit Blick auf das Misstrauensvotum gegen May. „Sie kämpft um ihr Leben“, ist auf der Titelseite der „Daily Mail“ zu lesen, während die U-Bahn-Zeitung „Metro“ von der „größten Niederlage aller Zeiten“ sprach. Mit einem Wort begnügte sich der „Scotsman“: „Zerschmettert“.