Brexit-Verhandler Michel Barnier
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EU-Brexit-Verhandler Barnier

„No Deal“-Risiko war nie größer

Der EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier hat am Mittwoch vor einem ungeregelten Austritt Großbritanniens gewarnt. „Noch nie war das Risiko eines ‚No Deals‘ so groß“, sagte Barnier am Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg: „Solange wir keinen Ausgang für die britische Sackgasse gefunden haben, sind wir nicht in der Lage weiterzumachen.“

Deshalb müssten jetzt die weiteren Etappen von der britischer Regierung dargelegt werden. „Zum jetzigen Zeitpunkt kann kein einziges Szenario ausgeschlossen werden. Das ist auch wahr für den ‚No Deal‘, den ungeregelten Austritt.“ Die EU sei weiter entschlossen, ein solches Szenario zu vermeiden.

Barnier verteidigte das im britischen Unterhaus gescheiterte EU-Austrittsabkommen, das er federführend für die EU ausgehandelt hatte. Das Abkommen sei „der bestmögliche Kompromiss“. Die britische Regierung solle nun sagen, „wie man am 29. März geordnet austritt“, forderte Barnier.

Brexit-Verhandler Michel Barnier
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Barnier bei seiner Rede am Mittwoch in Straßburg

Der EU-Chefverhandler bedauerte das Ergebnis der Abstimmung im britischen Parlament vom Dienstagabend. Die Notfalllösung für Irland hinsichtlich der Grenze zum britischen Nordirland („Backstop“) müsse glaubwürdig bleiben, betonte der Franzose. Die einzige Rechtsgrundlage dafür sei das Austrittsabkommen. Dessen Ratifizierung sei eine Vorbedingung für gegenseitiges Vertrauen.

Kommission: Vorbereitungen auf „No Deal“-Brexit

Bis dato hat Großbritannien keine Anfrage an die EU zwecks Verschiebung des Austrittsdatums gestellt. Ein Kommissionssprecher sagte am Mittwoch in Brüssel, sollte das erfolgen, liege es in der Hand der 27 EU-Staaten, das einstimmig zu entscheiden.

Befragt, was es bedeute, wenn Barnier sage, die EU könne ihre Position ändern, wenn Großbritannien seine roten Linien ändere, bekräftigte der Sprecher, dass „das Austrittsabkommen nicht für Wiederverhandlungen offen ist“. Es handle sich um einen fairen Kompromiss und den bestmöglichen Deal, weil er die Schäden für Bürger und Unternehmen reduziere.

„Müssen wissen, was Großbritannien will“

Darauf angesprochen, ob das bedeute, dass zwar das Austrittsabkommen unverändert bleibe, aber die politische Erklärung dazu geändert werden könnte, sagte der Sprecher, was derzeit wesentlich sei, sei die Haltung der Briten. Dort stehe am Abend noch ein Misstrauensantrag gegen Premierministerin Theresa May auf dem Programm. „Wir müssen wissen, was Großbritannien will.“

TV-Hinweise

ORF2 zeigt am Mittwoch um 22.25 Uhr einen runden Tisch zum Thema „Briten in der Sackgasse – Europa, was nun?“, um 22.55 Uhr ein „Weltjournal“ („Brexit – wie konnte es so weit kommen?“) und um 23.30 Uhr ein „Weltjournal+“ („24 Stunden – Großbritannien von oben“).

„Wir können nicht zurückgehen und den Anfang verändern“, sagte EU-Kommissionsvize Frans Timmermans. Aber man könne das Ende ändern. Auch er sagte, die EU müsse sich auf einen „No Deal“ vorbereiten. „Der Brexit richtet Schaden an, er schadet Großbritannien, er schadet der Europäischen Union. Wir als Politiker haben die Verpflichtung, diesen Schaden auf das mögliche Minimum zu begrenzen“, so Timmermans.

Juncker berät EU-Linie mit Staaten

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker steckte am Mittwoch eine gemeinsame Linie mit den europäischen Hauptstädten ab. „Präsident Juncker hat mit praktisch jedem gesprochen“, sagte sein Sprecher Margaritis Schinas in Brüssel. Er ließ aber ausdrücklich offen, ob darunter auch May war. Aus der Kommission hieß es nur, Juncker und May hätten einen sehr engen Draht und ständig Kontakt.

Die Kommission wollte sich auch nicht dazu äußern, ob May in den nächsten Tagen nach Brüssel reisen könnte. Schinas sagte, man sei immer bereit zu reden. Er forderte die britische Regierung erneut auf, zunächst ihre Position zu klären. „Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nichts, was die EU noch tun könnte“, sagte der Sprecher.

Juncker schrieb nach der Abstimmung auf Twitter, er bedauere den Ausgang der Abstimmung. Gleichzeitig forderte er Klarheit: Das Vereinigte Königreich müsse seine Absichten so schnell wie möglich kundtun. „Die Zeit ist fast abgelaufen.“ In einem Statement schloss Juncker Nachverhandlungen mit London aus.

„Neuverhandlung ist keine Option“

Auch stellte die EU-Seite klar, kein neues Austrittsabkommen mit London verhandeln zu wollen. „Eine Neuverhandlung ist keine Option“, sagte die amtierende EU-Ratsvorsitzende und rumänische Europastaatssekretärin Melania Ciot am Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg.

Das Ergebnis mache „einen ordentlichen Austritt des Vereinigten Königreichs unwahrscheinlicher“, sagte Ciot. Die EU werde die Ratifizierung des Brexit-Abkommens vorantreiben. Die Vorbereitungen auf einen Austritt ohne Abkommen würden nun aber für die EU mehr Raum einnehmen.

Tajani: „Sind noch nicht bei ‚No Deal‘“

„Noch sind wir nicht bei einem ‚No Deal‘ angekommen“, sagte EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani am Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg in Reaktion auf die Ablehnung des Brexit-Abkommens. „Wir nehmen diese Abstimmung zur Kenntnis, natürlich mit Bedauern.“ Verschiedene britische Abgeordnete hätten aus gegensätzlichen Gründen gegen das Abkommen gestimmt. Die EU sei bereit, an den künftigen Beziehungen mit Großbritannien zu arbeiten.

Verhofstadt sieht Zeichen für positive Wende

Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk äußerte sich eher zurückhaltend zu Neuverhandlungen. Wenn ein Abkommen unmöglich sei, niemand aber einen Austritt ohne Vereinbarung wolle, „wer wird dann letztlich den Mut haben zu sagen, was die einzig positive Lösung ist?“, schrieb Tusk im Kurznachrichtendienst Twitter.

Der Brexit-Koordinator des EU-Parlaments, Guy Verhofstadt, sieht in der Ablehnung ein Zeichen für eine positive Wende. Die Abstimmung sei ein Ausdruck dafür, dass das Unterhaus näher an die EU rücken wolle, sagte Verhofstadt am Dienstagabend in Straßburg. „Eine Mehrheit im Unterhaus will eine tiefere Beziehung zur EU als im Austrittsvertrag beschrieben.“

Irischer Außenminister: Müssen Nerven behalten

Nach dem Nein zum Deal bleibt den EU-Staaten aus Sicht des irischen Außenministers nichts übrig, als abzuwarten. „Es wird noch so viel passieren in Westminster in den nächsten Tagen, bevor deutlich wird, was Großbritannien will“, sagte Simon Coveney am Mittwoch dem Sender RTE. Für die Regierungen der EU sei es deshalb schwierig, hilfreich zu reagieren. „Wir müssen diese Woche die Nerven behalten.“

Coveney geht davon aus, dass May das Misstrauensvotum im Londoner Parlament übersteht. Die EU sei aber „nicht in der Stimmung“, die Bedingungen für den Austritt der Briten nachzuverhandeln, sagte er. Der Umgang mit der Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland gehört zu den umstrittensten Fragen des Brexits.

Berlin: Warten auf Mays Vorschläge

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will ihre Bemühungen um einen geordneten Brexit fortsetzen. „Wir glauben, dass es jetzt an der britischen Seite ist – und die Premierministerin hat das ja auch angekündigt –, uns zu sagen, wie es weitergeht“, sagte sie am Mittwoch in Berlin. „Wir haben noch Zeit zu verhandeln.“ Man warte jetzt auf das, was May noch vorschlage.

Sie bedauere die Absage sehr, sagte Merkel und versicherte: „Wir wollen den Schaden – es wird in jedem Fall einen Schaden geben durch den Austritt Großbritanniens – so klein wie möglich halten. Deshalb werden wir natürlich versuchen, eine geordnete Lösung weiter zu finden.“ Deutschland sei aber auch vorbereitet, falls es eine solche geordnete Lösung nicht gebe.

Paris: „Brexit“-Verschiebung „möglich“

Aus Sicht der französischen Regierung ist eine Verschiebung des EU-Austritts der Briten möglich. Eine Verschiebung des Brexits über den 29. März hinaus sei „rechtlich und technisch möglich“, wenn die britische Regierung sie beantrage, sagte Frankreichs Europaministerin Nathalie Loiseau am Mittwoch Radio France Inter.

Auch der niederländische Premier Mark Rutte hält einen Aufschub für Großbritannien für möglich. Wenn die Regierung in London die EU um mehr Zeit bitten sollte, dann werde das in Europa wohlwollend geprüft werden, sagte Rutte am Mittwoch in Den Haag dem niederländischen TV.

Madrid: „No Deal“ vorantreiben

Der spanische Regierungschef Pedro Sanchez will die Vorbereitungen auf einen ungeordneten EU-Austritt der Briten verstärken. Die EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission würden nun Maßnahmen treffen, um die Konsequenzen eines „harten“ Brexits so gering wie möglich zu halten, sagte der Sozialist in Straßburg.

Durch den Brexit würden alle verlieren, insbesondere aber die Briten und die Schwächsten in der Gesellschaft, sagte Sanchez. Er respektiere, aber bedauere das Ergebnis. Sanchez zollte dem EU-Chefverhandler Barnier Respekt für dessen Arbeit und dafür, dass er die Einheit der EU-27 bewahrt habe. Die Grundsätze der EU seien klar: Die Integrität des Binnenmarktes, die vier Grundfreiheiten und Autonomie der EU müssten geschützt werden.

Van der Bellen hofft auf Verbleib der Briten

Bundespräsident Alexander Van der Bellen bezeichnete das Nein des britischen Unterhauses als „bedauerlich“ – gleichzeitig betonte er seine Hoffnung auf die Möglichkeit eines Verbleibs Großbritanniens in der EU. Er hoffe, dass „die Tür für ‚remain‘ noch offen ist“, die Entscheidung liege aber in den Händen der Briten, erklärte er in einer Aussendung.

Die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Ausstiegs – ohne Vereinbarung – sei allerdings durch das Votum gestiegen, so Van der Bellen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssten sich nun ernsthaft auf ein solches Szenario vorbereiten. „Schwierigkeiten werden unvermeidlich sein, aber handhabbar bleiben“, so der Präsident. Am dringendsten sei es nun, den Österreichern im Vereinigten Königreich, den Briten in Österreich und Unternehmen „Klarheit und Sicherheit“ zu geben.

Kurz würde Briten Zeit für Details lassen

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) würde den Briten wenn nötig Zeit lassen, damit es nicht zu einem übereilten EU-Ausstieg kommt. Zwar sei das Brexit-Abkommen nach dessen Ablehnung durch das britische Parlament nicht nachverhandelbar, sagte er am Mittwoch nach dem Ministerrat. Allerdings könnten in einer notwendigen Erklärung mit der EU noch Details geklärt werden. „Der Wunsch muss aber von Großbritannien kommen“, so Kurz.

Österreich sei für jeden erdenklichen Fall gerüstet, die Vorbereitungen dafür in der Regierung gingen schon seit geraumer Zeit. Federführend sei dabei etwa Europaminister Gernot Blümel (ÖVP) gewesen, Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) erwähnte FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl. Eine Herausforderung für die österreichische Regierung wird die Schließung der durch den Brexit entstehenden gesetzlichen Lücken sein.

Ein Teil einer Sammelgesetznovelle sei eben in Begutachtung gegangen, berichtete Blümel. Zudem sei am Dienstag eine Website online gegangen, die betroffene Bürger über die Auswirkungen des Brexits informiert. Konkret gehe es auch um Fragen von offenen Studienabschlüssen und „Native Speakern“, die in Schulen eingesetzt werden.