Schauspierlin Emma Stone in einer Szene des Films „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“
2019 Twentieth Century Fox
Oscar-Favorit

Aschenputtels Staatsstreich

Am Hof von Queen Anne stolzieren Männer wie alberne Pfaue umher und Frauen ziehen politisch die Fäden. So wie in Giorgos (Yorgos) Lanthimos’ soeben für zehn Oscars nominiertem Historienfilm „The Favourite“ könnte das Matriarchat aussehen. Doch Paradies wäre es keines.

Die Landung der Heldin in der Handlung ist alles andere als geglückt: Die verarmte Adelige Abigail (Emma Stone) wird von Mitreisenden aus der Postkutsche gestoßen und landet, Gesicht voraus, im Dreck vor dem Palast. Aber warum stinkt der Schlamm so bestialisch? Die Bevölkerung, so erfährt Abigail, hinterlässt ihre Exkremente aus Protest gegen Krieg und hohe Steuern vor den Stammsitz der britischen Königin.

Und genau diese, die kindlich-jähzornige Anne Stuart (gespielt von Olivia Colman), ist auch das Ziel von Abigails Reise – ein grandioser Einstieg für einen grandiosen Film, der auf sehr körperliche Weise von Hierarchien erzählt. Und in dem nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Anti-Märchen am Königshof

Da ist etwa die falsche Aschenputtel-Fährte. Denn natürlich ähnelt die hübsche, in den Schmutz gefallene Abigail der Figur aus dem Märchen. Auch sie betritt als Übersehene den prunkvollen Palast, um einen märchenhaften Aufstieg zu beginnen. Von der Küchenmagd wird sich Abigail zur Gesellschafterin der einflussreichen Lady Marlborough (Rachel Weisz) hochdienen und schließlich zur Einflüsterin der britischen Königin selbst. Aber Obacht – spätestens hier endet die Parallele mit dem heteronormativen Märchen: Nicht nur als Schattenregentin löst Abigail die temperamentvolle Lady ab, sondern auch als Bettgefährtin der Königin, der sie unter dem Vorwand medizinischer Massagen Höhepunkte verschafft.

Szene des Films „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“
2019 Twentieth Century Fox
Lady Marlborough (Weisz, l.) und Abigail (Stone): selbst ernannte Karrieristinnen an Anne Stuarts Hof

Wird es aber für Abigail, die sich ganz ohne Prinzen nach oben schläft, ein klassisches Happy End geben? Wer Lanthimos’ absurde Parabel „The Lobster“ (2015) oder seine bitterböse Schicksalssatire „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) gesehen hat, kennt die Antwort. Man muss sich den Regisseur wohl als Zyniker vorstellen. Oder zumindest als Realisten, der zur Überzeugung gelangt ist, dass Macht die Menschen verdirbt.

Beglückend ist also weniger das Ende dieses Films als der temporeiche Weg dorthin: Es macht unglaubliche Freude, den selbst ernannten Karrieristinnen und der amtsmüden Königin bei ihren Machtproben zuzusehen, bei ihren Wutausbrüchen und Scharaden. Und natürlich ist dieses Spiel auch ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums – das nicht nur von Grimms Märchen, sondern auch vom konventionellen Erzählkino auf defensive, fügsame Frauentypen eingestimmt ist und hier von der Kraft, Durchtriebenheit und Raffinesse des weiblichen Trios überwältigt wird.

„The Favourite“ als Favorit bei den Oscars

Auch in Hollywood geht Lanthimos’ Überwältigungsstrategie auf. Schon zweimal war er in der Vergangenheit für einen Oscar nominiert – ohne diesen zu erhalten. „The Favourite“ scheint die Academy nun umfassender zu überzeugen: Mit zehn Nominierungen geht der Film (neben dem ebenfalls zehnfach nominierten „Roma“) als Favorit in die Verleihung am 24. Februar.

Szene des Films „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“
2019 Twentieth Century Fox
Königin Anne Stuart (Colman): Die Vergangenheit interessiert Lanthimos nicht als korrekt wiederzugebendes Ganzes

Unter anderem ist Lanthimos selbst für die beste Regie nominiert, der Film als bester Film sowie Colman, Weisz und Stone als beste Haupt- und Nebendarstellerinnen. Der oben erwähnte Tausch der Geschlechterrollen dürfte dem Film in Zeiten von „#MeToo“ wohl einen Zusatzbonus beschert haben.

„Gefährliche Liebschaften“ trifft Kubricks „2001“

Aber nicht nur, was Geschlechterrollen betrifft, lehnt sich „The Favourite“ weit aus dem Fenster. Auch formal probiert er einiges aus. Dazu kann man den Film etwa mit Stephen Frears Achtziger-Jahre-Historienhit „Gefährliche Liebschaften“ vergleichen. Im Kontrast zu diesem wirkt „The Favourite“ geradezu wortkarg und verlässt sich stattdessen auf den kinetischen Sog der Kamera.

Oscar-Kandidat Lanthimos

Geboren 1973 in Athen, griechischer Film-, Musikvideo- und Theaterregisseur, Produzent und Drehbuchautor. Persönlich erhielt er vier Oscar-Nominierungen, für den besten fremdsprachigen Film („Dog Tooth“, 2009), das beste Originaldrehbuch („The Lobster“, 2015) und aktuell für den besten Film und die beste Regie bei „The Favourite“.

Die unterläuft nämlich ständig die Perfektion der Ausstattung, saust, als könne sie fliegen, durch die blankpolierten Flure des Schlosses oder filmt die Räume in einer extremen Weitwinkeloptik, wie sie Stanley Kubrick in „2001 – A Space Odyssee“ verwendete. Angesichts der optisch gebogenen Wände und Decken beschleicht einen hier auch das Gefühl, dass der Palast ein merkwürdiges Raumschiff ist – was ja den Tatsachen entspricht, denn die dekadente Gesellschaft im Inneren ignoriert das Leben derer da draußen.

Die Königin und die Karnickel

Auf der Tonspur wechseln barocke Cembalo- und Streicherarrangements mit harsch schabenden, minimalistischen Klängen. Analog mündet ein höfischer Tanz in den Exzess einer Hip-Hop-Choreografie. Die Vergangenheit interessiert Lanthimos nicht als korrekt wiederzugebendes Ganzes. Er braucht sie eher als Rahmen, in dem er seine Versuchsanordnung zum Thema Macht bauen kann – am Beispiel des britischen Königshofs unter Anne Stuart sozusagen. Die in Wirklichkeit übrigens durchaus erfolgreich regierte.

Schauspierlin Emma Stone und Regisseur Yorgos Lanthimos am Set des Films „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“
2019 Twentieth Century Fox
Lanthimos, Schauspielerin Stone: Auch formal probiert der Regisseur einiges aus

Queen Anne (1665–1714), der letzten Stuart-Regentin, gelang es, 1707 England und Schottland unter einer Krone zu einen und noch kurz vor ihrem Tode den spanischen Erbfolgekrieg zu beenden. Und das, obwohl ihr Hartes widerfuhr. Keines ihrer siebzehn Kinder überlebte. Sie starben, teils schon während der Schwangerschaft, teils bei der Geburt und teils in jungem Alter. In Lanthimos’ Film hoppeln siebzehn Kaninchen durch das Gemach der Königin. Für jedes gestorbene Kind eines. Es hat wohl auch dieser Film irgendwie ein Herz – er mag es nur nicht so zeigen.