Schüler im Unterricht in einer Neuen Mittelschule
ORF.at/Zita Klimek
NMS vs. AHS

Wenn sich der Bildungsweg trennt

In diesen Wochen fällt für Kinder im letzten Volksschuljahr eine wichtige Entscheidung: Wie geht es im September weiter? Reichen die Noten nicht fürs Gymnasium, wird oft versichert, das österreichische Bildungssystem sei keine Einbahnstraße: Auch nach der Unterstufe stünden noch alle Möglichkeiten offen. Doch stimmt das?

Über 80.000 Viertklasslerinnen und Viertklassler finden sich nach den Semesterferien mit dem Halbjahreszeugnis in der Hand und den Eltern an der Seite zum Anmeldegespräch in der AHS oder NMS ihrer Wahl ein. Als eines der wenigen EU- und OECD-Länder hält Österreich am differenzierten Schulsystem fest. Das bedeutet – vor allem in den städtischen Ballungsräumen – oft, dass im letzten Jahr der Volksschule sortiert wird, welches Kind den Weg Richtung AHS, Matura und Studium einschlägt und welches nicht.

Orientiert man sich an den Zahlen vom Vorjahr, werden im kommenden Schuljahr knapp zwei von drei Kindern in Österreich an einer NMS beginnen. Die Hauptschulen sind mit diesem Schuljahr vollständig durch NMS ersetzt und damit endgültig Teil der Vergangenheit. In der Theorie stehen trotz der Trennung mit zehn Jahren alle Möglichkeiten für den weiteren Bildungsweg – und damit auch zu Matura und Studium – offen. In der Realität werden mit der Entscheidung zwischen AHS und NMS allerdings oft schon die Weichen gestellt.

Drop-out-Rate in fünfter Klasse AHS hoch

Bildungswegentscheidungen bestimmen die Berufs- und Lebenswege eines Menschen wesentlich, und der Übergang zwischen Volksschule und Sekundarstufe I, also NMS oder AHS-Unterstufe, ist die erste große Schnittstelle. Denn während es nach der AHS-Unterstufe für viele selbstverständlich ist, in die Oberstufe zu wechseln, ist es das nach der NMS nicht. Nicht einmal jeder Zehnte besucht nach der NMS eine AHS-Oberstufe.

Und selbst wenn der Wechsel gelingt: Die Drop-out-Rate bei NMS-Absolventinnen und -Absolventen im ersten Jahr der Oberstufe ist hoch. Von den Schülerinnen und Schülern, die im Schuljahr 2015/16 von der NMS in die fünfte Klasse Gymnasium eingestiegen sind, traten laut Zahlen der Statistik Austria im darauffolgenden Schuljahr nur knapp drei von vier (73,1 Prozent) in die sechste Klasse über. Von den Schülerinnen und Schülern aus der AHS-Unterstufe taten das immerhin fast neun von zehn (88,5 Prozent).

Neue Lehrende, neue Fächer, neue Klasse

„Bildungsübergänge an sich sind schon nicht allzu leicht“, so die Bildungswissenschaftlerin Corinna Geppert. Schülerinnen und Schüler, die aus der AHS-Unterstufe in die Oberstufe wechseln, hätten allerdings den Vorteil, dass sie die Schule schon kennen und „wissen, wie es läuft“. Für Jugendliche, die aus der NMS neu dazukommen, sei die Situation erschwert: „Sie haben ganz neue Lehrende, ganz neue Fächer, und sie sind noch dazu mit der Situation konfrontiert, dass sie sich in einen quasi bestehenden Klassenverband einordnen müssen.“

„Bis diese Schülerinnen und Schüler tatsächlich ins Lernen kommen, bis eine Situation hergestellt ist, in der sie sagen können, ,jetzt passt es‘, hinken sie schon hinterher. Und das ist natürlich wahnsinnig frustrierend“, so die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien im Gespräch mit ORF.at.

Die Schülerströme in Zahlen

Im Schuljahr 2017/18 wechselten laut Statistik Austria 8,7 Prozent nach der NMS in eine AHS-Oberstufe und 33,9 Prozent in eine BHS.

HTL und HBLA „attraktiver“

Wesentlich mehr Schülerinnen und Schüler wechseln nach der NMS in eine BHS (berufsbildende höhere Schule), also etwa HTL, HBLA oder HAK, nämlich jeder dritte. Das BHS-System sei für diese Schülerinnen und Schüler attraktiver, erklärt Bildungswissenschaftlerin Geppert den Unterschied. Es werde wegen der damit verbundenen Berufsausbildung von Wirtschaftstreibenden sehr hoch geschätzt. „Das sehen sicher auch viele Schülerinnen und Schüler als gewinnbringender an: Sie haben den Nutzen des praktischen Wissens und schließen trotzdem mit Matura ab. Sie können danach studieren, während die AHS oft mit dem Duktus verbunden ist, „ich muss danach studieren“.

Doch auch in der BHS zeigt sich, dass der Schulerfolg stark vom vorher besuchten Schultyp beeinflusst ist: Von den Schülerinnen und Schülern, die 2015/16 von der AHS in die erste Klasse einer BHS eingestiegen sind, traten im Folgejahr knapp neun von zehn (88,8 Prozent) in die zweite Klasse über. Bei den NMS-Absolventinnen und -Absolventen gelang das nur 68,9 Prozent.

Buddys für Neuankömmlinge

Um die Drop-out-Rate in der neunten Schulstufe zu verringern, sieht Geppert Verbesserungsbedarf in der Zusammenarbeit zwischen Schulen an der Übergangsschwelle zwischen NMS und AHS oder BHS: „Wo Zusammenarbeit zwischen Schulen funktioniert, ist es für Schülerinnen und Schüler immer einfacher, den Übergang zu schaffen.“ Ein Buddy- oder Mentoring-System, wie es das teilweise schon gibt, könne hilfreich sein, damit Schülerinnen und Schüler, die neu an eine Schule kommen, sich besser zurechtfinden und dann auch im System bleiben: „Ältere Schülerinnen und Schüler, die den Neuankömmlingen helfen und sie informieren, wie es an der Schule läuft.“

Corinna Geppert
Corinna Geppert
Bildungswissenschaftlerin Corinna Geppert

Entscheidend für den weiteren Bildungsweg ist allerdings nicht nur der Schultyp, sondern in großem Maße auch der Schulstandort. In welchen Schultyp Schülerinnen und Schüler nach der Volksschule oder auch nach der NMS wechseln, ist oft stark vom jeweiligen Schulstandort abhängig, wie Schülerstromanalysen zeigen.

„Ruf einer Schule ist langanhaltend“

„Der Ruf einer Schule ist ganz wichtig. Und der ist sehr langanhaltend“, so Geppert. „Hat eine Schule einmal einen richtig schlechten Ruf, dann zieht sich das fort. Und auch wenn sie einen richtig guten Ruf hat, zieht sich das fort. Völlig unabhängig vom Schultyp.“ Unterschiede zwischen einzelnen Schulstandorten sieht Geppert zumindest bis zu einem gewissen Grad: „Aus unseren Forschungen wissen wir, dass zwei NMS am selben Standort total unterschiedliche Problemlagen haben. Da pickt auf jeder Schule das Label NMS, aber was in der Schule passiert, ist was ganz anderes.“

Eine NMS in Wien sei zudem nicht vergleichbar mit einer NMS „irgendwo am Land, wo die Schule sich aus allen Schülern und Schülerinnen der Umgebung speist und wirklich eine Gesamtschule ist. Wo alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft zusammenkommen.“ In Wien hingegen werde versucht, ins Gymnasium zu kommen, „wenn man es irgendwie schafft“, was dazu führt, dass die NMS „als Restschule betrachtet werden könnte“.

„Wir hatten das ja in Wien schon: das Label ,Hauptschule ist Restschule‘. Dann erfolgte die Aufwertung mit den Kooperativen Mittelschulen und jetzt den Neuen Mittelschulen, wo man versucht hat, die Schulen aufzuwerten und sie mit mehr Ressourcen auszustatten.“ Und gerade die Ressourcen seien nach wie vor das Problem, so Geppert, denn die seien oft nicht so verteilt, wie sie benötigt werden.

Run auf AHS hält an

Die AHS-Unterstufe verzeichnete im vergangenen Schuljahr mit knapp 120.000 Schülern und Schülerinnen (plus 1,5 Prozent) einen neuen Höchststand. Umgekehrt war die Entwicklung in der (mittlerweile ausgelaufenen) Hauptschule und NMS: Mit knapp 208.000 Schülerinnen und Schülern wurde ein neuer Tiefststand seit dem Schuljahr 1965/66 erreicht. Einen neuen Rekord hatte im vergangenen Schuljahr mit über 92.000 Schülerinnen und Schülern und plus 0,3 Prozent auch die AHS-Oberstufe. Umgekehrt verzeichnete die BHS mit minus 1,2 Prozent einen leichten Rückgang auf knapp 144.000 Jugendliche.

Bildungsexpansion

Bildungsexpansion bezeichnet das Erreichen immer höherer Abschlüsse und den Ausbau der sekundären – AHS, BHS etc. – und tertiären Bereiche – Universitäten, Fachhochschulen und Hochschulen – des Bildungswesens.

Als Einbahnstraße sieht Geppert das österreichische Bildungssystem trotz allem nicht: Es gebe einige Möglichkeiten, über Umwege zu einer Studienberechtigung zu kommen und dann auf Fachhochschulen, Kollegs und Universitäten zu gehen – „wenn man das denn überhaupt möchte“. Denn es sei oft eine Prämisse: „Alle müssen Matura haben, und alle müssen studieren können. Dabei gäbe es viele Jugendliche, die sich lieber im Bereich eines Berufs weiterbilden wollen.“ Die stattfindende Bildungsexpansion sieht Geppert durchaus kritisch: „Heutzutage ist die Matura Mindestnorm. Und irgendwann wird es Mindestnorm, den Bachelor zu haben, und das geht immer so weiter, und irgendwann wird es problematisch.“

Ein Problem sei sicher, so Geppert, dass vieles kostenpflichtig sei, wenn man nicht den direkten Weg geht. „Da gibt es dann – wie im Bildungssystem generell – ein bisschen diese Zweiklassengesellschaft: Jene, die aus einem sehr bildungsaktiven Haushalt kommen und sozioökonomisch stark aufgestellt sind, haben mehr Möglichkeiten, ihren Weg zu gehen und auch Umwege positiv bestreiten zu können.“