Zwei Lego-Figuren stehen Rücken an Rücken auf Euro-Geldscheinen
ORF.at/Christian Öser
Euro-Zone

Ein Konstrukt gerät an seine Grenzen

Die EU hat eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Das Dilemma: Europas Wirtschaft kann so nicht als Gemeinschaftsleistung gesehen werden. Vielmehr handelt es sich um einzelne Volkswirtschaften mit gemeinsamem Binnenmarkt, die aber in ihrem ökonomischen Handeln separat agieren – ein komplexes System, das nicht nur im Krisenfall an seine Grenzen gerät.

Selbst Versuche, noch vor der EU-Wahl Ende Mai für eine verstärkte wirtschaftspolitische Zusammenarbeit einzutreten, liegen zur Zeit auf Eis: Die Finanztransaktionssteuer kommt nicht, ebenso wenig eine Digitalsteuer. Und der deutsch-französische Vorschlag zum Euro-Zonen-Budget, um den Euro krisenfester zu machen, wird von einigen EU-Ländern – darunter auch Österreich – scharf kritisiert: Ein detailliertes Konzept über Ziele, Kosten und Umsetzbarkeit fehle.

„Wir haben eine Konstruktion, die in der Welt sicher einmalig ist“, beschreibt Wirtschaftswissenschaftler Fritz Breuss, Jean-Monnet-Professor für wirtschaftliche Aspekte der Europäischen Integration, das Dilemma in der EU bzw. Euro-Zone gegenüber ORF.at. „Das Hauptproblem dabei ist: Wir sind kein Staat.“ Weder die 28 Mitgliedsstaaten der EU, noch die 19 Länder der Euro-Zone konnten sich je zu einer gemeinschaftlichen Wirtschafts-, Finanz- oder Haushaltspolitik durchringen. Kommission, Parlament und Staaten feilschen sich das Budget aus, die Mitgliedsstaaten haben das letzte Wort.

Das Gebäude der EZB im Bezirk Ostend in Frankfurt
ORF.at/Zita Klimek
Das Mandat der EZB ist die Gewährleistung von stabilen Preisen, zentrale Fiskalpolitik gibt sie aber keine vor

Ein Kontrollmechanismus ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der in wirtschaftlich normalen Zeiten für einen ausgeglichenen Staatshaushalt und eine Begrenzung der öffentlichen Verschuldung sorgen soll. Doch die Geschichte zeigte, dass das die Euro-Krise nicht verhindern konnte. Ein Grund für die mangelnde Wirkung des Euro-Stabilitätspakts liege im weiten Ermessensspielraum, wann ein Defizitverfahren eingeleitet werden soll, kritisiert etwa die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Über die Zeit seien außerdem Veränderungen vorgenommen worden, die als Aufweichung des Euro-Stabilitätspakts interpretiert worden seien. Einige Länder seien so in Versuchung geraten, die Angaben über das eigene Budgetdefizit zu schönen – zum Beispiel Griechenland.

„Bail-out“ oder „No bail-out“?

Doch hätte sich Griechenland bei gemeinsamer EU-Wirtschaftspolitik so hoch verschulden können? Vereinfacht lasse sich das Szenario im Vergleich mit dem US-Pleitestaat Kalifornien erklären, so Breuss. Zentral sei dabei die No-bail-out-Klausel (Deutsch: Nichtbeistandsklausel). Sie ist eine Ergänzung des Euro-Stabilitätspakts und untersagt sowohl den EU-Staaten als auch der EU selbst, für Verbindlichkeiten eines (anderen) Mitgliedsstaates zu haften. Auch in den USA gibt es diese Klausel. Da die USA aber ein Staat ist – und kein Staatenverbund wie die EU – sah man sie dort strikter: Durch den Geldfluss aus Washington wurden zwar die ärgsten Haushaltslöcher geflickt – wodurch dem Bundesstaat 2009 aus der Rezession geholfen werden konnte – der Rest aber blieb Kalifornien selbst überlassen.

Eurobonds

Als Eurobond wird eine bisher nicht realisierte, aber häufig diskutierte Art von Staatsanleihen in der EU bezeichnet. In der Theorie würden EU-Staaten gemeinsam Schulden auf dem Kapitalmarkt aufnehmen, diese Mittel unter sich aufteilen und gemeinsam für die Rückzahlung und Zinsen dieser Schulden haften.

Hinzu kommt folgender Unterschied im Vergleich Kalifornien-Griechenland: Weil die USA ein Staat sind, kann man dort Staatsanleihen in Dollar kaufen. Entsprechend schätzen Ökonominnen und Ökonomen die Chance sehr gering ein, dass die Probleme eines einzelnen US-Bundesstaats auf den Kurs einer Dollaranleihe durchschlagen könne. In der Euro-Zone hingegen fehlt diese übergeordnete Ebene – es können nur die Anleihen einzelner Mitgliedsländer gekauft werden. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern deshalb die Einführung von Eurobonds.

Argumente für die Rettung Griechenlands

Griechenland wurde von der EU insgesamt mit rund 290 Milliarden Euro gerettet. Das Geld floss in Form direkter Kredite der Euro-Staaten sowie über die Rettungsschirme EFSF und ESM, teils auch über den Internationalen Währungsfond (IWF). Doch war die Rettung Griechenlands ein Verstoß gegen die No-bail-out-Klausel? Nein, argumentierte der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU): „Es geht ja nicht um eine Haftung, sondern es geht um eine freiwillige Beistandsleistung. Sie haften ja auch nicht für meine Schulden. Sie könnten mir ja auch unter Bedingungen einen Kredit gewähren. Ich glaube nicht, dass das ein Verstoß gegen das Bail-out-Verbot ist. Ich bin sicher, wir sind auf einer einwandfreien, rechtlichen Grundlage“, kommentierte Schäuble.

Rechtlich wurde die Rettung Griechenlands folgendermaßen argumentiert: Dem Land drohte ein Staatsbankrott, die Angst vor etwaigen Konsequenzen für weitere EU-Länder war groß. Deshalb beschlossen die Staats- und Regierungschefs die Anwendung von Artikel 122 Absatz 2 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag), dem zufolge einem Mitgliedsstaat, der „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist“, unter bestimmten Bedingungen finanzielle Unterstützung der EU gewährt werden kann.

Szenario EU-Wirtschaftsregierung

Insbesondere am Höhepunkt der griechischen Staatsschuldenkrise 2010 wurde deshalb das Szenario einer EU-Wirtschaftsregierung durchdiskutiert. Eine eigene Wirtschaftsregierung könnte der EU zu stabilem Wachstum zurück helfen, der Meinung sind einige Finanz- sowie Wirtschaftsexperten und -expertinnen auch heute noch.

Jean-Claude Juncker, Emmanuel Macron und Angela Merkel
APA/AFP/Ludovic Marin
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sprachen sich bisher für mehr wirtschaftliche Konvergenz aus

Ihnen zufolge könnte das Szenario einer EU-Wirtschaftsregierung folgendermaßen aussehen: Ähnlich der US-Regierung würde über bestimmte Steuern zentral verfügt, bestimmte Aufgaben könnten auf europäische Ebene verlagert werden, Eurobonds würden eingeführt. Die EZB würde eine Zeit lang die Zinsen für schwache Euro-Länder stabilisieren. Regeln könnte das in diesem Szenario ein eigener Finanzminister. Die Finanzmärkte könnten so wieder Vertrauen fassen, die Zinsen in schwachen Euro-Ländern würden nachhaltig sinken. Staatsausgaben müssten so nicht radikal gekürzt werden.

„Kein Land macht Wirtschaftspolitik für sich allein“

Befürworterinnen und Befürworter erwarten sich auf diese Weise einen langen, anhaltenden Aufschwung im Euro-Raum und sinkende Arbeitslosigkeit. So sprachen sich bisher Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sowie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker immer wieder einmal für eine gemeinsame EU-Wirtschaftsregierung und mehr wirtschaftliche Konvergenz im Euro-Raum aus.

Konvergenz

Konvergenz bezeichnet das Angleichen ökonomischer Verhältnisse einzelner Länder – von der wirtschaftlichen Produktivität bis hin zum Lebensstandard.

Gegnerinnen und Gegner des Szenarios wollen indes die Eigenständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten nicht missen. Politische linke Kritikerinnen und Kritiker etwa lehnen eine gemeinsame Wirtschaftsregierung ab, weil sie dadurch eine Zementierung neoliberaler Prinzipien befürchten. Einige kritische Stimmen aus dem konservativen und politisch-rechten Lager sehen wiederum ein Demokratiedefizit der EU durch das Modell verstärkt.

Dem entgegnet die deutsche Jacques-Delors-Wissenschaftlerin Anna auf dem Brinke in einem Europa-Briefing: „Die Krise hat gezeigt, dass ein Mangel an Konvergenz allen Euroländern wirtschaftlich und politisch schadet“, schreibt sie. „Es ist deshalb nicht nur im europäischen Interesse, wenn alle Länder zur Angleichung beitragen, sondern auch im nationalen. Kein Land macht Wirtschaftspolitik für sich allein. Dies gilt besonders für den Euroraum.“

Breuss sieht gegenüber ORF.at den Kern darin, dass die Steuer- und Finanzpolitik noch einer der wenigen Bereiche sei, in denen Nationalstaaten weitgehend eigenständig handeln können. Doch mit Eigenständigkeit, so zeigt ein Blick auf den Status quo in Europa, kommt eben auch wirtschaftliche Unterschiedlichkeit, die zunehmend zur Herausforderung wird. „Die Länder innerhalb der Euro-Zone sind nicht auf dem gleichen Pfad. Es fehlt der europäische Konjunkturzyklus“, so der Wirtschaftsprofessor. „Nur wenn alle Länder gleich laufen würden, dann wäre auch eine gemeinsame Geldpolitik adäquat.“