Lkw im Hafen von Dover
APA/AFP/Glyn Kirk
„Hard Brexit“

Engpässe bei Versorgung befürchtet

Ein möglicher „Hard Brexit“, also ein Austritt Großbritanniens aus der EU ohne Vertrag, wirft seinen Schatten voraus. So könnte es in diesem Fall zu Engpässen in der Versorgung in Großbritannien kommen, denn die Lieferketten sind mit der EU stark verschränkt. Betroffen wäre von großen Konzernen bis zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf der Insel so gut wie jeder.

Der bisherige Wegfall von Zöllen und Grenzkontrollen ließ in Großbritannien eine Versorgung und Wertschöpfung ohne lange Lagerhaltung entstehen, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) Ende Jänner schrieb. Ein „No Deal“-Brexit würde viel Sand in die fein abgestimmte Liefermaschinerie streuen, so die Schweizer Zeitung.

Alle Waren und Personen aus Großbritannien müssten im Falle eines ungeregelten Austritts am 29. März vor dem Überschreiten der EU-Grenzen wieder kontrolliert werden. Neue Kräfte für den Zoll auf beiden Seiten des Kanals müssten dann aufgenommen werden.

Frachthafen von Dover
Reuters/Peter Nicholls
Der Hafen von Dover

Warnung vor Lkw-Staus von Dover bis London

Die Grenzformalitäten könnten für lange Warteschlangen und Stauungen im Güterverkehr sorgen. In Dover werden rund 17 Prozent der Güter für das Vereinigte Königreich abgefertigt. Zwölf Fähren sind laut „NZZ“ in Dover täglich mit bis zu 120 Fahrten unterwegs. Jeden Tag rollen rund 10.000 Laster durch den Hafen. Im Hafen von Dover dauert die Lkw-Abfertigung derzeit nur rund zwei Minuten. Nur zwei Minuten mehr würden allerdings laut dem Betreiber Staus von 27 Kilometern verursachen.

Vor einem Endlosstau als Folge warnte etwa bereits der dänische Spediteur DSV. Der könnte sich über die gesamte 130 Kilometer lange Strecke zwischen London und Dover erstrecken, so DSV-Chef Jens Bjorn Andersen. „Am Nadelöhr zwischen Calais und Dover wird es im Fall eines ungeregelten Austritts zu Staus und Wartezeiten kommen“, so auch der international tätige deutsche Logistiker Dachser.

Bereits kleine Probleme mit großer Wirkung

Es gebe klare Belege aus der Vergangenheit, wie schon kleine Probleme im Ärmelkanal über längere Zeit starke Auswirkungen auf die Logistikkette haben könnten, so Peter Ward, Chef des britischen Verbands der Betreiber von Lagerhäusern (UKWA), in der „NZZ“. Er erwähnte dabei nicht zuletzt das Wetter.

Wichtig sei auch, so der Chef des Hafens Dover, Doug Bannister, die Spediteure rechtzeitig von britischer Seite wie auch von der EU aus zu informieren, welche Papiere überhaupt notwendig seien, wie er in der „NZZ“ sagte. Ward hingegen sprach sich gleich für ein kulantes Verhalten der Behörden aus. Für eine begrenzte Zeit könnten die Behörden die Lkws einfach durchwinken, so der Vorschlag, und auf Kontrollen verzichten.

„Dimensionen nicht zu bewältigen“

Die Verbindung zwischen Großbritannien und Europa sei wirtschaftlich so eng, dass eine Grenze „eigentlich“ nicht funktioniere, so auch der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Martin Wansleben. „Man muss sich mal vorstellen, jeder Lkw wird eine Viertelstunde, 20 Minuten, eine halbe Stunde kontrolliert, das kann man sich nicht mehr vorstellen.“ Solche Dimensionen seien nicht zu bewältigen.

Lkw stauen auf Straße
Reuters/Toby Melville
Ein Test für ein „No Deal“-Szenario – eine fixe Spur für eine lange Lkw-Schlange

Stresstest mit 89 Lastwagen

Auch der britischen Regierung ist das Problem bewusst. Um zu prüfen, wie sich trotz der in diesem Fall wieder nötigen Grenzkontrollen Staus vermeiden lassen, ließ sie Anfang Jänner 89 Lastwagen auf dem stillgelegten Flughafen von Manston knapp 32 Kilometer vom Hafen von Dover auffahren.

Das Gelände könnte genutzt werden, um im Falle eines ungeordneten EU-Austritts Großbritanniens Staus nahe Dover zu verhindern, teilte das Verkehrsministerium in London mit. Der Konvoi fuhr probeweise bis zum Hafen von Dover. Er nutzte dabei eine zweispurige Straße, die seltener von Lastern benutzt wird als die Autobahn nach London. Die Lastwagen machten anschließend kehrt und fuhren zum stillgelegten Flughafengelände zurück, um dort eine zweite Übung dieser Art zu beginnen.

Ziel der Testfahrt sei es, sicherzustellen, dass es „einen wirksamen Plan für den Fall von Störungen nach dem EU-Austritt“ gebe, teilte das Verkehrsministerium mit. Dabei auf einen stillgelegten Flughafen zurückzugreifen sei „eine der Maßnahmen“, um eine „Überlastung (der Straßen, Anm.) abzumildern“. Die britische Regierung hat allerdings für den Fall des Falles eines „Hard Brexit“ für über 100 Mio. Pfund (114 Mio. Euro) Fährkapazitäten in anderen Häfen gechartert, um Dover zu entlasten.

Industrie und Handel bunkern Vorräte

Wegen drohender Lieferengpässe horten britische Unternehmen bereits Importware, die sie für ihre Produktion dringend benötigen. Inzwischen sind in Großbritannien aber kaum mehr Lagerflächen zu bekommen, da neben Industriebetrieben auch Supermärkte Lebensmittel auf Vorrat bunkern.

Rund die Hälfte der Waren wird importiert. Zwar könnten die Supermarktketten Konserven und Ähnliches in ihren Lagern horten – für frische Lebensmittel sei das aber keine Option, sagte etwa der Chef der größten Supermarktkette Tesco, Dave Lewis.

Verknappung und Verteuerung möglich

Auch Sainsbury’s, Nummer zwei in Großbritannien, fürchtet eine Unterbrechung der Lieferketten. Sein Unternehmen importiere rund 30 Prozent seiner Lebensmittel, warnte Vorstandschef Mike Coupe. Es gebe einfach nicht genug Lagerhallen, um solche Mengen verderblicher Waren vorzuhalten.

Und Experten erinnern daran, dass es nach dem Einbruch einer riesigen Kältefront im vergangenen Jahr nur wenige Tage dauerte, bis Lücken in den Supermarktketten klafften. Die Zeche bei einer Verknappung etwa von Obst, Gemüse und Fleisch zahlten zudem die Verbraucher – denn deutlich steigende Preise wären die Folge.

Ford-Mitarbeiter
AP
Ein Ford-Mitarbeiter prüft in einem britischen Werk einen Motorblock

Brexit-Chaos macht Konzerne nervös

Auch große internationale Konzerne rüsten sich bereits für einen „Hard Brexit“. Sony verlegt bereits jetzt seinen europäischen Hauptsitz von London nach Amsterdam. Damit könne das Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb ohne Beeinträchtigung fortsetzen, wenn Großbritannien die Europäische Union verlasse, teilte eine Sony-Sprecherin Ende Jänner mit. Die Abläufe im europäischen Geschäft des japanischen Elektronikherstellers blieben unverändert.

Finanzielle Erwägungen stehen offenbar auch bei Ford im Mittelpunkt. Ein ungeregeltes Ausscheiden Großbritanniens aus der EU würde bei dem Unternehmen einem Insider zufolge Kosten von bis zu einer Milliarde Dollar (880 Mio. Euro) verursachen. Internen Berechnungen zufolge werde mit mindestens 500 Millionen Dollar (440 Mio. Euro) gerechnet, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person am Donnerstag. Der Sender Sky News hatte zuvor von Kosten von 800 Millionen Dollar (704 Mio. Euro) berichtet.

Airbus-Fertigungshalle
APA/AFP/Oli Scarff
Eine Airbus-Werkshalle in Großbritannien: In dem Land werden die Tragflächen für fast alle Airbus-Flugzeuge hergestellt

Airbus in der Logistikfalle

Der Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus droht Großbritannien ebenfalls im Falle eines ungeregelten EU-Austritts mit der Schließung von Fabriken. Es sei eine Schande, dass mehr als zwei Jahre nach dem Ergebnis des Referendums die Unternehmen immer noch nicht in der Lage seien, für die Zukunft richtig zu planen, sagte Airbus-Chef Tom Enders.

In Großbritannien hat der größte Luftfahrt- und Rüstungskonzern Europas fast seinen gesamten Tragflächenbau gebündelt. Nur der neue Airbus A220 ist davon unabhängig. Daher müssen die Lieferketten zwischen den einzelnen Werken reibungslos funktionieren. Bei einem ungeregelten Brexit muss Airbus um seine Logistik fürchten. Zulieferer müssen Teile für die Tragflächen nach Großbritannien bringen, die fertigen Tragflächen müssen anschließend zu den Werken in Frankreich, Deutschland, China und den USA.

„Mit dem Wissen von heute würde man so etwas sicher anders planen“, hört man im Airbus-Konzern. Airbus beschäftigt in Großbritannien früheren Angaben zufolge rund 14.000 Mitarbeiter an 25 Standorten. An seiner britischen Zuliefererkette hängen rund 110.000 Jobs. Wollte Airbus sein Geschäft in ein anderes Land verlagern, wäre das ein großer Aufwand.