Russlands Raketen vom Typ 9M729 auf einem Smartphone
AP/Pavel Golovkin
Ausstieg aus INF-Vertrag

Moskau droht USA mit Konsequenzen

Russland droht der US-Regierung mit Konsequenzen, falls sie aus dem INF-Vertrag zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenwaffen aussteigt. „Wenn sich die amerikanische Seite aus dem INF-Vertrag zurückzieht, behält sich Moskau das Recht vor, entsprechend zu reagieren“, sagte die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau, Maria Sacharowa, russischen Medien zufolge – ohne konkrete Maßnahmen zu nennen.

Die Entscheidung Washingtons, sich aus dem Vertrag zurückzuziehen, sei ein weiteres Beispiel für die Abkehr der US-Regierung von ihren internationalen Verpflichtungen, so Sacharowa. Es gehe nicht um die Frage einer „Schuld Russlands“. „Es ist die Strategie der USA, sich ihrer internationalen rechtlichen Verpflichtungen in verschiedenen Bereichen zu entledigen.“

„Könnten Sie uns Beweise liefern?“

Wie US-Außenminister Mike Pompeo am Freitag in Washington mitteilte, sähen sich die Vereinigten Staaten bereits ab Samstag nicht mehr an den 1987 noch mit der Sowjetunion geschlossenen Vertrag gebunden. Sacharowa forderte abermals von den USA, Beweise für die Anschuldigungen vorzulegen, den Vertrag gebrochen zu haben: „Könnten Sie uns außer Ihren Tweets weitere Beweise dafür liefern, wie es geschah? Es gibt keinen einzigen Beweis – kein Satellitenbild, keine Aufnahmen.“

Die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau, Maria Sacharowa
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Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, erkennt eine „Strategie der USA“

Zugleich wies die Sprecherin die Forderung zurück, alle Waffensysteme vom Typ 9M729 zu vernichten. Sacharowa sagte: „Sollen wir einfach so alles zerstören? Ich verstehe, das ist ein starker Wunsch – und nicht nur von unseren Freunden auf der anderen Seite des Ozeans, sondern auch von einigen Pazifisten in unserem Land.“

Trump für „neuen Vertrag“

US-Präsident Donald Trump sprach sich nach der Aufkündigung des Vertrags mit Russland für ein neues Abkommen aus. „Ich hoffe, dass wir alle in einen großen und wunderschönen Raum zusammenbringen können“, sagte er am Freitag in Washington. Ziel sei dann „ein neuer Vertrag, der viel besser sein würde“. Dieser könnte möglicherweise andere Staaten als nur die USA und Russland einschließen. Zuvor hatte Trump die „Entwicklung eigener militärischer Antwortoptionen“ angekündigt. Ob damit auch die Entwicklung neuer Raketensysteme gemeint ist, bleibt offen.

Nach Angaben Pompeos setzen die USA Russland allerdings noch eine sechsmonatige Frist, um zur „vollen und nachprüfbaren Einhaltung“ des Abkommens zurückzukehren. Dazu müsse Moskau bestimmte Raketen und Raketenwerfer vernichten. Komme Moskau dieser Forderung nicht nach, „endet der Vertrag“, sagte der US-Außenminister. Die Mitteilung Pompeos kam einen Tag vor dem Ablauf einer von den USA gesetzten 60-Tages-Frist.

US-Außenminister Mike Pompeo
APA/AFP/Eric Baradat
Laut US-Außenminister Pompeo gab es auf russischer Seite keine Bewegung

„Pflicht, auf angemessene Weise zu reagieren“

Pompeo beklagte, die USA hätten über Jahre auf die Vertragsuntreue der Russen hingewiesen und sich um eine Klärung bemüht. Russland habe sich jedoch nicht bewegt. „Es ist unsere Pflicht, auf angemessene Weise zu reagieren.“ Nach Angaben von Pompeo habe es von russischer Seite seit Anfang Dezember keine Bewegung gegeben. Die US-Regierung sei dennoch weiterhin „bereit“, mit Moskau über die Abrüstung zu verhandeln. Die von Pompeo angekündigte Sechsmonatsfrist entspricht dem INF-Vertragstext. Demzufolge könne das Abkommen erst nach Ablauf dieser Frist offiziell aufgelöst werden.

„Gegen das Herz des Abkommens“

Die Vereinigten Staaten und die NATO werfen Russland vor, mit seinem Marschflugkörper 9M729 gegen das INF-Abkommen zu verstoßen. Der Disput entwickelte sich zum schwersten Konflikt zwischen den USA und Russland seit Ende des Kalten Krieges. Im Vorjahr drohte Trump schließlich mit der Aufkündigung des 1987 geschlossenen Abkommens, sollte Moskau bis zum 2. Februar nicht zu den Bestimmungen des Vertrags zurückkehren. Beide Seiten hatten sich Mitte Jänner dann in Genf getroffen, um den bilateralen Abrüstungsvertrag noch zu retten. Die Gespräche blieben jedoch ohne Ergebnis.

Korrespondenten über Abrüstungsausstieg der USA

Die ORF-Korrespondenten Robert Uitz-Dallinger in Washington und Carola Schneider in Moskau erläutern, was das Ende des INF-Abrüstungsvertrags bedeutet und ob womöglich ein neuer Kalter Krieg droht.

In einem im Kurznachrichtendienst Twitter verbreiteten Video warf die amerikanische NATO-Botschafterin Kay Bailey Hutchison Russland in Folge vor, dass es sich „konsequent“ weigere, die Verstöße gegen das Abkommen einzugestehen, und weiter Desinformation über seinen Marschflugkörper verbreite. Russland habe der Diplomatin zufolge einen Flugkörper entwickelt, der „gegen das Herz des Abkommens“ verstoße, und darin seien sich alle Partner der nordatlantischen Allianz einig.

Stichwort INF-Vertrag

Der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) wurde 1987 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion geschlossen. Er verpflichtet beide Seiten zur Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Zugleich untersagt er auch die Produktion und Tests solcher Systeme.

NATO geschlossen hinter USA

Deren 29 Bündnisstaaten stellten sich bereits geschlossen hinter die US-Entscheidung zum INF-Vertragsausstieg. In einer am Freitag veröffentlichten Erklärung der Militärallianz heißt es, die Verbündeten unterstützten den Schritt uneingeschränkt. Das russische Marschflugkörpersystem vom Typ 9M729 verletze den INF-Vertrag und stelle eine signifikante Gefahr für die euroatlantische Sicherheit dar.

Sollte Russland die noch verbleibende sechsmonatige Kündigungsfrist nicht zur Vernichtung aller 9M729-Systeme nutzen, trage Moskau der NATO-Erklärung zufolge die alleinige Verantwortung für das Ende des INF-Vertrags.

Ob die NATO in diesem Fall selbst neue Mittelstreckensysteme in Europa aufbauen könnte, geht aus der vom Nordatlantikrat verabschiedeten Erklärung nicht hervor. Dort heißt es lediglich, die NATO werde weiter die notwendigen Schritte unternehmen, um die „Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten“ sicherzustellen. Zugleich machen die NATO-Mitgliedsstaaten deutlich, dass sie sich weiterhin für Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzen und eine konstruktive Beziehung zu Russland anstreben. Letzteres hänge aber vom Handeln Moskaus ab.

Moskau: „Extrem unverantwortlich“

Russland hatte die USA unmittelbar vor Pompeos Ankündigung vor einem „extrem unverantwortlichen“ Rückzug vom INF-Abrüstungsvertrag gewarnt. „Wir halten den Vertrag für notwendig. Er ist im Interesse unserer Sicherheit und der europäischen Sicherheit“, sagte Vizeaußenminister Sergej Riabkow in einem vom Fernsehen übertragenen Statement.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow warf den USA zudem vor, den Ausstieg schon lange geplant zu haben. „Die Weigerung der Amerikaner, unsere Argumente anzuhören und die Verhandlungen mit Russland zu Ende zu führen, zeigen, dass Washington bereits vor langer Zeit entschieden hat, sich von dem Vertrag zurückzuziehen“, sagte Peskow.

Der russische Generaloberst Viktor Jessin sagte, alles werde von den Reaktionen der Amerikaner abhängen. „Wenn sie Raketen in Europa stationieren, dann werden die Spannungen zunehmen.“ Russland könne ohne Probleme die Produktion von Kurz- und Mittelstreckenwaffen wieder aufnehmen. „Es wird nicht schwer sein, bodengestützte Kurz- und Mittelstreckenwaffen zu bauen“, sagte er der Agentur Interfax.

Neues Abkommen als eigentliches US-Ziel?

Aus europäischen Militärkreisen verlautete zuletzt, dass weder Russland noch die USA ein großes Interesse an einem Erhalt des Vertrags haben. Er verpflichtet nämlich nur die beiden Länder zum Verzicht auf die atomaren Mittelstreckenwaffen. Andere aufstrebende Militärmächte wie China können sie weiter entwickeln. Ziel der USA könnte es deswegen sein, das INF-Abkommen durch einen neuen multilateralen Vertrag zu ersetzen. Alternativ könnten sie zur Abschreckung von Gegnern selbst neue landgestützte Mittelstreckensysteme bauen.

Manche Experten gehen davon aus, dass ein Ende des INF-Vertrags andere Rüstungsabkommen infrage stellen werde und damit das weltweite System zur Begrenzung von Atomwaffen schwäche. In Europa wird unterdessen befürchtet, dass ein Ende des INF-Vertrags dazu führen werde, dass wie im Kalten Krieg vor allem hier neue Mittelstreckenraketen stationiert werden könnten.

Mogherini warnt vor „Schlachtfeld“

Der INF-Vertrag ist vor allem für Länder in Europa seit rund 30 Jahren eine wichtige Sicherheitsgarantie. Europa habe von dem Vertrag am meisten profitiert, sagte dazu am Freitag die EU-Außenbeauftrage Federica Mogherini am Rande eines Außenministertreffens in der rumänischen Stadt Bukarest. „Wir wollen nicht, dass der Kontinent wieder zurückfällt, entweder als Schlachtfeld oder als Ort der Konfrontation der Supermächte“, so Mogherini, derzufolge sich die EU die Beibehaltung des INF-Vertrags und die „volle Einhaltung“ seiner Bestimmungen wünsche.

Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan und der
ehemaliger Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Sergejewitsch Gorbatschow unterzeichen den INF-Vertrag, 1987
Reuters/DP/GN/Dennis Paquin
1987: Der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan bei der Vertragsunterzeichnung

„Weniger Sicherheit“

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte, eine Rüstungsdebatte würde Europa „zerreißen und schwächen“. Er hoffe darauf, dass es den Europäern gelinge, Russland und die USA wieder zu einem Dialog zusammenzubringen, „denn geografisch sind wir die Leidtragenden, wenn wieder Aufrüstung auf der Tagesordnung steht“. „Ohne INF-Vertrag wird es weniger Sicherheit geben“, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas. Diesem zufolge wurde der INF-Vertrag bereits durch die Wiederaufnahme von Raketentests durch Russland „faktisch außer Kraft gesetzt“.

Kneissl: „Vertrauensbruch auf allen Seiten“

FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl ortet in Hinblick auf die Entscheidung der USA „einen Vertrauensbruch auf allen Seiten“. Das sagte die Ministerin am Freitag in der ZIB2 und sprach sich dafür aus, dass in den nächsten sechs Monaten der Dialog aufrechterhalten werde. Sie schloss sich damit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel an. Schuldzuweisungen würden jetzt nicht weiterführen, so Kneissls Einschätzung.

Ministerin Kneissl: „Vertrauensbruch auf allen Seiten“

FPÖ-Außenministerin Kneissl bedauert die Entscheidung der USA, sich aus dem Abkommen zurückzuziehen. Schuldzuweisungen würden aber nichts bringen.

Österreich sei „besorgt, wenn ein wesentlicher Abrüstungsvertrag kippen sollte – es ist ja noch nicht ganz der Fall –, weil wir einfach an Abrüstung interessiert sind“, so die Ministerin. Angesichts der Tatsache, dass sich die NATO-Staaten geschlossen hinter die USA gestellt hatten, sagte Kneissl, es gehe nicht darum, auf der Seite der USA zu stehen, sondern darum, dass der Abrüstungsvertrag aufrechterhalten werde. Um zu beurteilen, ob die Vorwürfe der USA berechtigt seien, fehlten ihr die Einblicke, gab die Ministerin an.

Ungarn ortet „Scheinheiligkeit“

Der litauische Außenminister Linas Linkevicius gab ebenfalls Russland die Schuld. Es gebe „klare Beweise“, dass Russland mehrere Jahre lang den Vertrag gebrochen habe. Auch Lettlands Außenminister Edgars Rinkevics sagte, Russland halte sich nicht an die Vertragsbedingungen. Es brauche nun eine globale Lösung.

Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto warf dem Westen „Scheinheiligkeit“ gegenüber Russland vor. „Wir sehen, dass westliche europäische Länder Russland an der Oberfläche kritisieren, aber unter der Oberfläche machen ihre Unternehmen enorme Geschäfte mit russischen Unternehmen.“ Szijjarto nannte etwa die Ostsee-Pipeline „Nord Stream“ als Beispiel. In einer Ost-West-Konfrontation könne Mitteleuropa nur verlieren. Ungarn habe aber nicht viel Einfluss, „wir können nur die Daumen halten“.