Aufgeschlagenes Buch „100 Karten“
ORF.at/Carina Kainz
Perspektivenwechsel

100 neue Blicke auf die Welt

Die deutsche Zeitschrift „Katapult“ hat sich die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse zur Aufgabe gemacht – und es geschafft, ein scheinbar sprödes Konzept als echtes Ideenfeuerwerk zu präsentieren. Als Weiterführung gibt es jetzt „100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern“ – ein Infografikbuch, das neben der Aufklärung vor allem auf die Spaßkarte setzt.

Klimaforscher haben ein Problem: Die Katastrophenszenarien, von denen sie zu berichten haben, sind für die meisten kaum zu ertragen. Die fast zwangsläufige Folge ist, dass wir uns reflexhaft abwenden und in die Verdrängung flüchten – was vielen Fachleuten Kopfzerbrechen bereitet, wie trotzdem Bewusstseinsarbeit geleistet werden kann. Und hier kommt „100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern“ ins Spiel: Eine Stärke des von „Katapult“ herausgegebenen Buchs ist es nämlich, zu zeigen, wie ein etwas anderer Vermittlungsansatz aussehen könnte – was Bilder können, wenn man sie nur richtig einzusetzen weiß.

Unter den exakt hundert ganz verschiedengestaltigen Karten ist zum Beispiel eine simple Grafik in Blau. Auf der einen Seite sieht man eine Nord- und eine Südpolkarte und daneben eine Eistüte: „Dinge, die schmelzen“ steht darunter geschrieben. Auf der anderen Seite ist noch einmal eine Eistüte, diesmal ganz allein: „Dinge, bei denen uns das stört“. Eine Karte als einprägsamer, nicht moralisierender Wink mit dem Zaunpfahl, der auf den Punkt bringt, wie schwer wir uns tun, die Klimakrise ernst zu nehmen. Das Wichtigste daran: Es kommt mit einem humorvollen Dreh daher, der nicht wegschauen, sondern nachdenken lässt.

Seite aus dem Buch „100 Karten“
Katapult
Klimakrise bei „Katapult“: gewitztes Aufmerksam-Machen, ohne zu moralisieren

Print in Zeiten der Printkrise

Seit der Gründung des Magazins vor vier Jahren macht „Katapult“ solche und ähnliche Dinge – mit einem Erfolg, so der Chefredakteur Benjamin Fredrich im ORF.at-Interview, den wohl keiner für möglich gehalten hätte. Die Geschichte des „Geo der Sozialwissenschaft“, wie man sich in der Selbstbezeichnung nennt, liest sich ein bisschen wie ein Medienmärchen: Im März 2015 hatten sich drei Studierende im beschaulichen deutschen Städtchen Greifswald zusammengetan, um eine populäre Zeitschrift für Sozialwissenschaft zu gründen. In Printform, zu einem Zeitpunkt, als sich andere schon längst den Kopf über die Krise der Branche zerbrachen.

„Die Berater kamen und meinten, ihr dürft keinesfalls drucken. Und ihr müsst auf jeden Fall aus dieser Stadt weg“, erzählte Fredrich. Man machte genau das Gegenteil, entschied sich für Print, blieb an der Ostsee. „Greifswald? Wieso nicht, du Arschloch!?“ ist jetzt selbstbewusst augenzwinkernd in der Inforubrik zu lesen. Der Erfolg gibt recht: 13.600 Abonnenten, eine Auflage von 50.000, Millionenreichweite in den Sozialen Netzwerken und ein großes Team von Grafikern und Journalisten, das trockene Daten lukullisch aufbereitet und die zugehörigen Studien journalistisch unter die Leute bringt. Jetzt hat man sich ans Medium Buch gemacht, um, wie Fendrich meint, eine neue Leserschaft zu erreichen.

Katapult-Redaktion
Katapult
Vom kleinen Büro zum großen Medienmarkt: „Katapult“ ist trotzdem nicht sinnbildlich gemeint, der Name hat einfach gefallen

Otto Neurath lässt grüßen

Der Trend zur Infografik ist übrigens nicht ganz neu: Seit Otto Neurath mit seiner Bildstatistik in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Zeichen zur Wissensdemokratisierung und zur Aufklärung der Arbeiterschaft setzte, ist sie auf Erfolgskurs. Schon 28 Jahre lang sorgt etwa das Arte-Magazin „Mit offenen Karten“ für Quote, der „Atlas der Globalisierung“ der Monatszeitung „Le Monde diplomatique“ wird mittlerweile in 24 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft, seit 2003 auch im deutschsprachigen Raum.

Was „Katapult“ – und nicht zuletzt auch das Buchprojekt – vielleicht am meisten davon unterscheidet, sind das Verspielte und die Lust am Verwirrspiel, die sich schon im Untertitel „Magazin für Eis, Kartografik und Sozialwissenschaft“ andeutet. Mit Eis?! Nicht wirklich – nur ein Ausdruck dessen, dass man sich um Abgrenzung zur üblicherweise „sehr ernsthaften, sehr akkuraten und sehr ordentlichen“ sozialwissenschaftlichen Fachauslegung bemüht, wie Fredrich sagt.

Buchhinweis

Katapult (Hg.): 100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern. 208 Seiten, 20,60 Euro.

Hier kann also auch gelacht werden – und hin und wieder darf es auch kompliziert zugehen: Im Kern ist schon im Titel verpackt, was das Buch leisten will, nämlich den Perspektivenwechsel seiner Leserinnen und Leser. In diesem Sinne konsequent ist auch der Plan des Südpols, den man aufs Titelblatt gestellt hat. Zuerst kennt man sich nicht ganz aus – doch dann funkt es plötzlich: „Auch Norden“, „anderer Norden“ oder „schon wieder Norden“ soll anzeigen, dass es ganz im Süden nicht mehr südlicher, sondern nur nördlicher geht.

Seite aus dem Buch „100 Karten“
Katapult
Klingt nach einem bestechenden Einfall: Nur so viel Platz bräuchte man, um die ganze Welt mit Windenergie zu versorgen

Eine Punkband namens „Erotischer Stuhlgang“

Auf den nachfolgenden Seiten wird man dann auf einem kunterbunten Parcours quer durch alle Disziplinen geschickt, von ausgestorbenen Sprachen über die Verteilung von Ungleichheit, den weltweiten Alkoholkonsum, „einfallslose Straßennamen“, „Länder, in die das Vereinigte Königreich nie einmarschiert ist“, bis hin zu Karten, die zeigen, dass Amerika aussieht wie eine Ente – wenn man anders hinschaut. Das Buch ist also so etwas wie die populistische große Schwester des Magazins – beziehungsweise die Variante, die Jugendliche und Fans von unnützem (Halb-)Wissen wahrscheinlich besonders packen wird.

Bis auf das Quellenverzeichnis hat man nämlich ganz auf Hintergrundstudien verzichtet – und vor allem den Spaßfaktor erheblich hochgeschraubt. Ein Klassiker sind da zum Beispiel verschiedene Karten zu lustigen Namensgebungen – die etwa die hohe Repräsentation von „Kotzen“ im deutschen Ortsnamensregister in Erinnerung rufen („Oberkotzau, Kotzendorf, Großkotzenreuth und natürlich Kleinkotzenreuth“) oder die kreativen Blüten deutscher Punkbands präsentieren („Helene Fischer hätte sich zu eintausend Prozent nicht ‚Erotischer Stuhlgang’ genannt“).

Seite aus dem Buch „100 Karten“
Katapult
Wie viele Menschen leben pro Kopf in einem Land? Subtile Kritik an gar zu simplen Relationen in Statistiken

„Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte“

Unter die Rubrik unnützes, aber witziges Wissen fällt auch die Karte zur Verbreitung von Heavy-Metal-Bands, die zeigt, dass es in Finnland über 20 Bands pro 100.000 Einwohner gibt – was eigentlich ganz gut ins Klischee passt. Vor allem spannend wird das Buch aber dann, wenn es um mehr geht als nur um die „Fun Facts“ – wenn man etwa die Macht der Bilder nutzt, um Stimmung zu machen für die Energiewende. Ein kleines Kästchen auf einer Weltkarte zeigt, dass wir uns nicht vor Millionen Quadratkilometer großen Windparks fürchten müssten, sondern ein winziges Stückchen eigentlich reichen würde, um die gesamte Energieversorgung weltweit sicherzustellen. Will das vielleicht tatsächlich irgendwer angehen?

Im Gegensatz zur Anfangszeit hat „Katapult“ inzwischen keine Probleme mehr, an wissenschaftliche Studien zu kommen. Diese werden mittlerweile explizit an das Kollektiv herangetragen – im Austausch gegen Karten. „Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte“: Dass sich hinter dem abgedroschenen Sprichwort ein gutes Stück Wahrheit verbirgt, weiß dieses vergnügliche Buch eindrucksvoll zu vermitteln. Ob man dann nachzurecherchieren beginnt oder doch einfach weiterblättert, bleibt einem selbst überlassen.