Bausteine auf EU-Fahne
ORF.at
Auf dem Prüfstand

Die Szenarien für die Zukunft der EU

Vom Brexit über die Flüchtlingskrise bis zum Vormarsch EU-skeptischer Parteien: Die letzten Jahre haben der Europäischen Union enorm zugesetzt. Unverkennbar drängend stellte sich die Frage nach der Zukunft, weswegen die Kommission vor zwei Jahren fünf Szenarien für das künftige Europa vorgestellt hat. Damit wollte man sich noch vor der EU-Wahl im Mai auf einen neuen Kurs einigen. Doch ist das passiert?

Es ist gerade einmal 30 Seiten dick, sollte aber zur „Kompassnadel“ für ein Europa in Aufruhr werden: das „Weißbuch zur Zukunft Europas“, das angesichts der vielen Krisen der EU im Jahr 2017 präsentiert wurde. In ihm hat die EU-Kommission fünf Szenarien für eine grundlegende Veränderung der Union sowie ihre „Risiken und Nebenwirkungen“ skizziert, mit deren Hilfe sich die Staats- und Regierungschefs darauf einigen sollen, in welche Richtung Europa künftig geht.

Ihre Bandbreite reicht von der radikalen Rückbesinnung auf das Urkonzept Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zu einem Modell der „Vereinigten Staaten von Europa“ mit weitreichenden Kompetenzen für Brüssel. Zwei Szenarien sprechen sich dabei auch für wesentlich weniger Europa aus. Die fünf Optionen lauten wie folgt:

Szenario eins: Die EU macht weiter wie bisher – und kann damit Ergebnisse erzielen, Beschlüsse bleiben aber zäh und oft eine Kompromisslösung.

Szenario zwei: Die EU legt den Schwerpunkt auf den Binnenmarkt – und hat damit weniger Probleme, verliert aber auch politische Vorzüge.

Szenario drei: Jene Staaten, die mehr tun wollen, tun mehr – wodurch den Staaten mehr Freiraum bliebe, aber auch Klüfte und Intransparenzen entstehen würden.

Szenario vier: Die EU macht weniger, das dafür effizienter – wodurch sich schnellere und klarere Beschlüsse ergeben würden. Zuvor müssten sich die Staaten aber einig werden, wofür die EU zuständig sein soll.

Szenario fünf: Die EU weitet das gemeinsame Handeln erheblich aus – was für schnellere Beschlüsse sorgen würde, aber jene auf den Plan ruft, die Brüssel nicht zu viel Macht geben wollen.

Sollte „Debatte auslösen“

Das Weißbuch sollte eine „ehrliche und umfassende Debatte auslösen“, hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker damals gesagt. Nach einer „Bedenkzeit“ sollten sich die EU-Staaten gemeinsam für einen Kurs entscheiden und diesen „zeitgerecht“ bis zur EU-Wahl auf Schiene bringen. Die Wahl und damit auch eine neue Kommission stehen nun vor der Tür. Und beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs im rumänischen Sibiu am Donnerstag sollen nun die Weichen für Veränderung gelegt werden. Weiß man, wohin die Reise gehen soll?

Zweifel daran hat Janis Emmanouilidis vom Brüsseler Thinktank European Policy Centre (EPC). Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit den frühen 2000er Jahren mit der Frage, welche Pfade Europa einschlagen könnte – und im jüngsten, laut ihm „ungewöhnlichen“, Vorstoß für einen Kurswechsel sieht er eine Chance, die vertan wurde: „Die Gelegenheit, die sich damals ergeben hat, wurde nicht genutzt. Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem die EU Reformen, die sie benötigt, nicht erreicht hat und an dem man gleichzeitig keine strategische Klarheit hat, wohin die Reise gehen soll“, so Emmanouilidis gegenüber ORF.at.

Weissbuch zur Zukunft Europas
ORF.at/Saskia Etschmaier
Die Präsentation der Szenarien sei „ein ungewöhnlicher Schritt“ gewesen, so Emmanouilidis

Dafür verantwortlich sei gewesen, dass die EU-Staaten zu unterschiedliche Visionen für die Zukunft Europas hätten – allen voran Deutschland und Frankreich. Dort hätten „Mut und Willen“ nicht ausgereicht, um echte Veränderungen auf den Weg zu bringen.

„Dass man nicht weitergekommen ist, liegt an der mangelnden Fähigkeit, in den Mitgliedsstaaten Einigkeit darüber zu erzielen, wie es in den unterschiedlichen Bereichen vorangehen soll. Und das liegt auch an Paris und Berlin, diesem so wichtigen Zweierverhältnis.“ Denn während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ehrgeizige Pläne für Europa hegt, verharren in Deutschland sowohl die scheidende Kanzlerin Angela Merkel als auch ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbaur (beide CDU) in Warteposition.

Angela Merkel und Emmanuel Macron
Reuters/Toby Melville
Die Verbindung Deutschland – Frankreich ist für Europas Zukunft nach wie vor maßgeblich

Emmanouilidis sieht in dem ungenutzten Fenster ein Versäumnis. Denn europaskeptische „Antikräfte“, wie er sie nennt, werden seiner Einschätzung nach in Zukunft mehr Gewicht in Brüssel bekommen. Dadurch werde man es in der EU „sicher nicht einfacher haben, Kompromisse zu schmieden und Konsens zu finden“.

Und damit stellt sich der Politikwissenschaftler auch die Frage, ob und wie weit man – im Schatten der Europawahl – die notwendige strategische Debatte für die Zukunft führen wird. Dass diese notwendig ist, liegt für ihn auf der Hand: „Es werden Stürme kommen. Die Frage ist, ob die EU dafür gerüstet ist.“

„Kein Einvernehmen“ bei EU-Entwicklung

Tiefgreifende Unstimmigkeiten zwischen den Staaten verhindern eine Neuorientierung innerhalb der EU, sagt Janis Emmanouilidis vom Thinktank European Policy Centre (EPC).

Fünf große Aufträge für Staatschefs

Zuversichtlicher gibt sich die scheidende EU-Kommission. Deren Präsident Juncker betonte bei seiner Bilanzrede am Dienstag die „Einheit, Entschlossenheit und auch Kompromissfähigkeit“ der Staaten und machte damit klar, dass diese auch in Sibiu gezeigt werden müsse. Mit Blick auf den Gipfel hatte die EU-Kommission bereits am Donnerstag fünf strategische Prioriäten für die kommenden Jahre präsentiert: So soll sich die EU in Zukunft auf Verteidigung, Wettbewerbsfähigkeit, Soziales, Nachhaltigkeit und die Rolle der EU in der Welt konzentrieren.

Als Ziele nennt die EU-Kommission unter anderem Schritte hin zu einer „echten europäischen Verteidigungsunion“, zudem ein besseres Management von Migration. Weiters müsse der Binnenmarkt gestärkt und mehr für Forschung und Innovation getan werden. Nur so könne man den Zukunftsfragen, auch dem Klimawandel, gerecht werden. Weitere Vertiefung brauche es bei der Wirtschafts- und Währungsunion und eine Verbesserung bei den sozialen Rechten.

Neben den möglichen strategischen Prioritäten dürfte auf Initiative von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wohl auch eine mögliche Änderung der EU-Verträge besprochen werden. Eine solche hatte Kurz am Wochenende gefordert. Konkret forderte er etwa verschärfte Sanktionen für Länder, die Schulden machen, und Strafen für Staaten, „die illegale Migranten nicht registrieren und weiterwinken“.

Zudem sprach er sich für eine Schließung von Straßburg als Standort des Europaparlaments und eine Verkleinerung der EU-Kommission aus. Der Vorschlag zur Vertragsaufschnürung wurde am Montag gemischt aufgenommen. Und von der EU-Kommission hieß es: „Die Megafrage von Vertragsänderungen ist für die Mitgliedsstaaten.“ Juncker ergänzte dazu: „Wir sollten die Verträge nutzen, die wir haben, wobei wir Änderungen nicht ausschließen sollten.“

„Durch dick und dünn“

Die „Megafrage“ und „das große Bild der EU“ sollen nun am Donnerstag debattiert werden. Geplant ist aber offenbar eine Erklärung, mit welcher der Zusammenhalt innerhalb der EU deutlich gemacht werden soll. „Wir bleiben zusammen, durch dick und dünn“, heißt es im Entwurf der Erklärung für den Sondergipfel, der mehreren Medien vorlag. „Wir anerkennen unsere Verantwortung als Chefs, die Union stärker und unsere Zukunft klarer zu machen, während wir die europäische Perspektive anderer europäischer Staaten anerkennen.“

Sibiu
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Im rumänischen Sibiu soll es am Donnerstag um „das große Bild der EU“ gehen

Das Papier listet zudem zehn „Verpflichtungen“ für die Zeit nach der Wahl auf. Unter anderem heißt es, man wolle „unsere Art zu leben, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schützen“, ein geeintes Europa verteidigen, „den Grundsatz der Fairness aufrechterhalten“, „den Sorgen und Hoffnungen aller Europäer lauschen“ und „die Zukunft für die nächsten Generationen von Europäern sichern“. Man wolle die Überzeugung bekräftigen, dass man „in dieser unruhigen und herausfordernden Welt“ geeint stärker sei.

Alles im Umbruch

Egal, was der Sibiu-Gipfel letzten Endes bringen wird: Dass die Gemengelage in Europa einfacher wird, daran glaubt in Brüssel derzeit kaum jemand. Denn nach der Wahl Ende Mai werden sich die Kräfteverhältnisse aller Voraussicht nach noch einmal ordentlich verschieben und vor allem auch fragmentieren. Das beginnt im Parlament selbst, wo es Umfragen zufolge wohl keine stabile Mehrheit der Konservativen und Sozialdemokraten mehr geben wird, dafür aber eine erstarkte Rechte.

Zudem formiert sich eine neue Kommission, und es gilt, mit dem EU-Ratspräsidenten, dem Parlamentspräsidenten, dem Chef der Zentralbank und der Hohen Vertretung der EU für Außen- und Sicherheitspolitik zentrale Chefposten zu besetzen. Entscheidend sind bei all dem die geänderten Bedingungen in den Nationalstaaten selbst: Im Vergleich zu 2014 haben EU-skeptische Parteien wesentlich mehr Macht. Und die Staaten sind es, die letzten Endes EU-Politik machen. Über all dem schwebt die ungeklärte Frage, wie es mit dem Brexit weitergeht.

Ob Junckers Szenarien nach dessen Abschied aus der EU-Politik noch eine Rolle spielen oder die Erkenntnisse des Denkprozesses ad acta gelegt werden, wird sich erst weisen. Der Reformdruck von innen und außen dürfte sich hingegen nicht in Luft auflösen.