Anti-Brexit-Demonstranten in London
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Brexit

Große Verlierer und kleine Verlierer

Noch ist nicht entschieden, ob Großbritannien mit oder ohne Vertrag die EU verlässt. Je nach Variante werden die Folgen für die gesamte Union anders ausfallen. Schon jetzt profitieren einige Länder vom Trennungschaos, etwa indem sie Firmen anlocken. Österreichs Wirtschaft würde zumindest glimpflich davonkommen – selbst bei einem „Hard Brexit“.

Rund sechs Wochen vor dem geplanten Brexit hat die britische Regierungschefin Theresa May am Dienstag den Abgeordneten in London geraten, die „Nerven zu bewahren“. Bei einer Erklärung im Unterhaus sagte sie, die Verhandlungen seien in einer entscheidenden Phase. Tatsächlich geht seit Wochen wenig bis gar nichts weiter im Austrittsprozess. Wie das britische Blatt „The Sun“ wissen will, bereitet May ihren Rücktritt vor – allerdings erst für den Sommer, also nach dem Brexit am 29. März.

Was am Tag danach passieren wird, darüber gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Ob die Lkws dann an einer harten Grenze warten, ob frisches Gemüse zur Mangelware auf der Insel wird und ob noch Flüge nach London starten, darüber wird auch unter Ökonominnen und Ökonomen spekuliert. Fest steht, dass der Brexit Gewinner, vor allem aber Verlierer mit sich bringen wird.

Mehr britische Firmen kamen nach Österreich

Vordergründig dürfte Österreichs Wirtschaftsstandort eher zu den Gewinnern gehören. Im vergangenen Jahr siedelten sich mehr britische Unternehmen in Österreich an als früher. Die Zahl sei mit 14 doppelt so hoch wie in den beiden Jahren davor zusammen, so Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP) am Dienstag.

Laut einer Studie des Centre of European Union Studies in Salzburg sind das spürbare Auswirkungen, die aber kein Anlass zur Schadenfreude seien. „Es ist aber unübersehbar, dass der Brexit schwerwiegende Folgen haben wird, besonders für Großbritannien“, sagte die Politologin Sonja Puntscher-Riekmann bei der Studienpräsentation am Dienstag. „Auch die anderen werden nicht ungeschoren davonkommen.“

Firmenansiedlungen seien nur „kleine Effekte, die man gegen das große Ganze aufrechnen sollte“, sagte Mitautor Florian Huber im Ö1-Mittagsjournal. Die Salzburger Untersuchungen würden zeigen, dass die negativen Folgen eines Brexits die positiven aufwiegen. Es gebe Umschichtungseffekte von Unternehmen und Organisationen, dennoch „sehe ich das Ganze doch als eine eher negativ Entwicklung“, so Huber – Audio dazu in oe1.ORF.at.

Negative Folgen überwiegen

Huber sieht den größten Verlust, vor allem eines ungeregelten Brexits, bei den Briten selbst. „Das ist auch das, was konsistent ist mit allen Studien, die empirisch ausgearbeitet worden sind. Ich glaube aber auch, dass die Effekte auf Europa nicht so klein sind, wie sehr viele Beteiligte uns wissen lassen wollen“, so Huber.

Hafen von Dover
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Der Hafen von Dover: Niemand weiß derzeit, was sich nach dem Brexit hier abspielen wird

Es würde laut der Studie zu einem unmittelbaren Einbruch der britischen Wirtschaftsleistung (gemessen an der Industrieproduktion) von bis zu 7,5 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr kommen. In Österreich würde die Produktion im Industriebereich in der maximalen Ausprägung um rund 4,5 Prozentpunkte gedämpft, in Deutschland um 4,2 Prozentpunkte. Noch wesentlich stärker betroffen wären Frankreich und Italien mit minus 5,8 bzw. 5,9 Prozentpunkten.

Deutschland wäre am schwersten betroffen

Deutlich entspannter, aber ebenfalls mit spürbaren Auswirkungen liefe ein „Soft Brexit“ ab: Für die Briten bedeutete diese Variante den Berechnungen der Universität Salzburg zufolge eine Beeinträchtigung der Industrieproduktion um bis zu 1,3 Prozentpunkte, für Österreich und Deutschland jeweils ein Minus von rund 0,7 Prozentpunkten.

„Hart“ oder „weich“?

Mit „hartem Brexit“ wird ein Scheitern der Verhandlungen und ein Ausscheiden Großbritanniens ohne Vertrag bezeichnet. Als „weicher Brexit“ gilt, dass man sich fristgerecht auf Vertrag und Eckpunkte für künftige Beziehungen einigt. In Großbritannien werden die Begriffe zuweilen anders benutzt und betreffen etwa Binnenmarkt und Zollunion.

Im Falle eines harten Austritts der Briten wären die Folgen für etliche Mitgliedsländer tatsächlich enorm. Weltweit geht es laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und der Universität Halle-Wittenberg um 612.000 Menschen, die nach einem ungeregelten Brexit ihren Job verlieren könnten. In absoluten Zahlen wäre der deutsche Arbeitsmarkt mit 100.000 gefährdeten Stellen am stärksten betroffen: In Deutschland wäre von einem Exportrückgang vor allem die Autoindustrie betroffen. In Frankreich wären laut Studie rund 50.000 Stellen betroffen.

„Spillover-Effekte“ befürchtet

Österreich käme im Vergleich glimpflicher davon: Ein ungeregelter Ausstieg der Briten hätte einen relativ schwachen Effekt auf den heimischen Arbeitsmarkt. Hier wären 1.900 Stellen direkt und 4.000 Jobs indirekt gefährdet, geht aus der deutschen Studie hervor. Sie basiert auf einer Simulationsrechnung und erfasst nur Jobeffekte, die auf den daraus folgenden Importeinbruch in Großbritannien zurückzuführen sind.

Grafik zum Brexit
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/IWH Halle

Für Österreich wären jedoch laut der Uni Salzburg die „Spillover-Effekte“ deutlich spürbar. „Wenn die deutschen Exporte nach Großbritannien einbrechen, hätte das unmittelbare Auswirkungen auf Österreich, Tschechien und die Slowakei“, so Huber. Weiters würde die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigen, der private Konsum dadurch sinken, die Exportnachfrage nach Waren und Dienstleistungen aus Österreich ebenso.

Britische Wirtschaft schon eingebremst

Ob geregelt oder nicht, schon heute spürt die britische Wirtschaft die Folgen des potenziellen Brexits stark: Chaos und Ungewissheit bremsten laut britischem Statistikamt das Wirtschaftswachstum. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte 2018 nur um 1,4 Prozent zu, der schwächste Anstieg seit 2012. Die Investitionen der Unternehmen gingen im letzten Quartal 2018 um 1,4 Prozent zurück und damit das vierte Quartal in Folge. Ähnlich schlecht sah es zuletzt während der Finanzkrise aus. Auch die privaten Haushalte, bisher in ihrem Konsumverhalten fast unbekümmert, gaben im letzten Quartal nur 0,4 Prozent mehr aus.

Britische Firmen investierten seit dem Brexit-Referendum zudem mehr in EU-Ländern. Diese Investitionen stiegen zwischen Mitte 2016 und September 2018 um 9,5 Milliarden Euro, so die London School of Economics.

Niederlande profitieren schon stark

Auch die Niederlande spüren die Brexit-Folgen schon heute, allerdings auf der anderen Seite der Medaille: 42 britische Unternehmen wanderten 2018 in die Niederlande, so das Wirtschaftsministerium in Den Haag. Damit waren 291 Millionen Euro Investitionen verbunden, rund 2.000 neue Arbeitsplätze seien geschaffen worden. Allen voran kam die europäische Arzneimittelagentur EMA samt 900 Mitarbeitern.

Im Schlepptau lockt Amsterdam Arzneimittelindustrie und Versicherer. Man rechnet sogar mit rund 250 Firmen, die noch folgen könnten. Für die Niederlande ist der Brexit so wie für den Rest der EU: kein Anlass zur Freude, ist Großbritannien doch der drittgrößte Handelspartner. Doch man nützt die Optionen. „Ich bin sehr traurig über den Brexit“, sagte der stellvertretende Bürgermeister von Amsterdam, Udo Kock, zur „New York Times“, „aber ich bin glücklich darüber, wie sich das auf Amsterdam auswirkt.“