Genproben in einem Labor
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Quanten, Gene, Graphen

Die EU im Experimentallabor

Quantentechnologie, Genverfahren, künstliche Intelligenz: Um auf dem internationalen Parkett bestehen zu können, werden komplexe Zukunftstechnologien immer relevanter. Europa will sich die wachsende Konkurrenz auf dem Weltmarkt mit Forschung vom Leib halten. Doch Exzellenz braucht Geld – wird davon genug zur Verfügung gestellt?

Alle paar Jahre heißt es: Europa sucht das Forschungsflaggschiff. Gefahndet wird nach Projekten mit einer besonderen Bedeutung für die Zukunft, die dann im großen Stil von der EU gefördert werden. Sie erhalten rund eine Milliarde Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren. Derzeit gibt es drei dieser Megaprojekte, die im EU-Jargon „FET Flagships“ genannt werden: eines zur Quantenforschung, eines zum neuartigen Material Graphen – ein extrem dünnes, leitfähiges und belastbares „Wundermaterial“ – und ein drittes zur Vermessung und Modellierung des menschlichen Gehirns.

Diese drei „Flaggschiffe“ sind die am höchsten geförderten Forschungsprojekte in der Geschichte der EU – von ihrer frühzeitigen, aber auch risikobehafteten Finanzierung erhofft sich die Union einen Wettbewerbsvorteil. Nun können laut der Fachzeitschrift „Nature“ mindestens sechs weitere Projekte darauf hoffen, sich der „Flotte“ anzuschließen. Sie stehen dem Bericht zufolge auf der Shortlist für die Förderung, bis zu drei Projekte werden dann tatsächlich unterstützt.

Von Genmedizin bis historischen „Zeitreisen“

Anhand der Kandidaten zeigt sich, wohin in der Wissenschaft die Reise geht: Große Themen sind erneuerbare Energiequellen, das allgegenwärtige Thema künstliche Intelligenz (KI), aber auch Genmedizin – Letztere etwa bei dem Projekt LifeTime, das unter anderem Zellveränderungen untersucht und damit die personalisierte Medizin vorantreiben will. Im selben Themenfeld bewegt sich auch RESTORE: Das Vorhaben will fortgeschrittenen Therapiemöglichkeiten den Weg in die Praxis bereiten. Zwei weitere Projekte – Sunrise und Energy-X – wollen mit unterschiedlichen Methoden die Gewinnung von Solarenergie effizienter machen.

Das Thema KI will das Projekt CLAIRE (Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence in Europe) anpacken. Durch die Initiative soll eine paneuropäische Agentur für die Erforschung und Nutzung von KI-Projekten geschaffen werden. Ehrgeiziges Ziel ist dabei auch ein Forschungszentrum nach dem Vorbild von CERN. Das passt zu den ehrgeizigen Plänen der EU: Sie will bis 2020 mindestens 20 Milliarden Euro in die Thematik KI investieren. Aus dem Raster fällt das Projekt Time Machine: Es will gewissermaßen das Europa der Vergangenheit zugänglich machen. Dazu sollen mit historischen Informationen unterfütterte, „grundlegende Technologien“ entwickelt werden, die es quasi ermöglichen, „durch die Zeit zu reisen“.

„Horizon 2020“ wird „Horizon Europe“

Mit der Auswahl der neuen „Flaggschiffe“, die im Frühjahr finalisiert werden sollen, baut die EU auch für ihre zukünftige Wissenschaftspolitik vor. Denn der nächste große Umbruch steht an: 2021 läuft mit „Horizon 2020“ das aktuelle Forschungsförderungsprogramm der EU aus. Zwischen 2014 und 2020 wurden und werden unter diesem Namen 77 Milliarden Euro in Forschungsvorhaben aller Art gepumpt. Die Förderung orientiert sich an drei „Säulen“: Grundlagenforschung, industrielle Wettbewerbsfähigkeit sowie der Lösung gesellschaftlicher Probleme.

Mehr als eine Milliarde Euro floss dabei auch an österreichische Labore, private Forschungsabteilungen, Universitäten und Unternehmen. Dabei wurden fast 1.800 Projekte mit österreichischer Beteiligung aus allen denkbaren Disziplinen gefördert. Besonders in den Bereichen Grundlagenforschung, Kommunikations- und Informationstechnologie sowie Transport gab es Gelder.

100 Mrd. Euro in Aussicht

Doch „Horizon 2020“ läuft aus, und für das nächste Rahmenprogramm steht noch einiges an Verhandlungen zur Struktur des Programms bevor. Am Dienstag treffen sich dafür die Wissenschaftsminister und -ministerinnen in Brüssel. Sie wollen Bilanz über die bisherigen Verhandlungen ziehen, die vornehmlich unter der österreichischen Ratspräsidentschaft im letzten Halbjahr stattgefunden haben. Dabei habe man sich auf ein Gerüst geeinigt, jetzt gehe es um die Details und Implementierung.

Relativ fix dürfte dabei schon der Finanzrahmen sein: Die Mittel für das Förderprogramm sollen laut der Kommission 100 Mrd. Euro umfassen, also 23 Mrd. Euro mehr als das Vorgängerprogramm. Kommission und Minister zeigten sich zufrieden, mehr Geld für die Forschung will hingegen das EU-Parlament. Ein Budget von mindestens 160 Mrd. Euro forderten mit einer Petition zuletzt auch zahlreiche Forscherinnen und Forscher, darunter mehrere Nobelpreisträger und die österreichische Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny.

Klassische EU-Probleme

Gefordert wird auch, dass bei dem neuen Programm „Horizon Europe“ aus Fehlern des aktuellen Programms gelernt wird. Dieses wurde 2018 einer Zwischenprüfung unterzogen. Die Bilanz: Insgesamt sei „Horizon 2020“ zwar ein „relevantes und effizientes“ Programm. Es gebe aber zu wenig Geld bei zu vielen guten Anträgen – und damit auch relativ hohe Ablehnungsraten.

Andererseits kranke das Programm auch an „klassischen EU-Problemen“: etwa einer oftmals nicht ausreichend geklärten Kompetenzverteilung zwischen der EU, den Staaten und den Regionen. Zudem müsse die EU-Forschungsförderung „mit all ihren Programmen, Initiativen und Instrumenten modernisiert und vereinfacht werden“.

Osteuropäische Staaten profitieren kaum

Und dann gibt es da noch das Problem, dass vor allem die osteuropäischen und baltischen EU-Staaten das Programm augenfällig wenig nutzen. Während allein Deutschland, Großbritannien und Frankreich als Top Drei gemeinsam rund ein Drittel der Gelder einsammeln konnten, gibt es bei den „neuen“ EU-Staaten nur eine geringe Beteiligung. Sogar mehrere Nicht-EU-Staaten, darunter Israel, die Türkei und Norwegen, profitieren von dem Programm mehr als etwa die Slowakei, Bulgarien und Rumänien. Forscherinnen und Forscher fürchten, dass das eine Innovationskluft innerhalb der EU verschärfen könnte.

Brexit am Horizont

Angesichts der starken britischen Position in dem Programm steht freilich auch die Frage nach dem Brexit im Raum. Laufende Projekte werden mindestens bis zum Austrittsdatum, dem 29. März, gefördert. Für die Zeit danach hat die britische Regierung zugesagt, im Fall eines „No Deal“-Szenarios die Förderleistung der Kommission bis 2020 zu übernehmen. Laut einer aktuellen Studie des Oberhauses könnte diese Zusage aber nur für Förderungen aus Programmen gelten, die Drittstaaten erlauben. Insgesamt könnten so 44 Prozent der „Horizon“-Förderungen an britische Projekte verlorengehen.

Und auch wie die britische Zukunft im Nachfolgeprogramm aussieht, ist noch vollkommen unklar. Die britischen Universitäten wollen jedenfalls voll an „Horizon Europe“ teilnehmen – „egal was passiert“, so Vivienne Stern von Universities UK, dem britischen Pendant zur Universitätenkonferenz, zur APA. „Großbritannien ist aber ein integraler Teil und führender Partner.“ Laut ihr würde letzten Endes auch die Wissenschaft der Union durch den Brexit geschwächt.