Schulkinder
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Schule

Der unaufhaltsame Run auf die AHS

80.000 Kindern der vierten Klasse Volksschule steht derzeit die Anmeldung an AHS oder NMS bevor – und damit die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg. Noch wechseln knapp zwei von drei Volksschulkindern in eine NMS, doch der Drang zum Gymnasium ist so stark wie nie.

Auf 100 Kinder in der AHS-Unterstufe kommen derzeit 174 in der NMS. Vor zehn Jahren waren es noch 212 (in der mittlerweile ausgelaufenen Hauptschule). Theoretisch ist die Entscheidung zwischen AHS und NMS von Begabungen und Leistungen abhängig. In der Realität aber, zumindest in den Städten, wo das Angebot an nahe gelegenen AHS-Standorten größer ist als auf dem Land, entscheidet meist der Bildungshintergrund der Eltern – Stichwort vererbte Bildung. Der Bildungsaufstieg in Richtung Hochschulabschluss gelingt in Österreich nach wie vor nur selten.

Die Schnittstelle nach der Volksschule wird immer mehr zum Stressfaktor, wie Pädagoginnen und Pädagogen oft berichten. Viele Eltern würden vor der alles entscheidenden Zeugnisvergabe im Halbjahr der vierten Schulstufe Druck ausüben. Denn ein Zweier mehr kann den Weg ans Wunschgymnasium mitunter schon schwieriger machen. Mit einem Dreier ist die Aufnahme an der AHS nur noch über Umwege möglich. Sie wären heilfroh, wenn die Entscheidung nicht mehr auf ihren Schultern läge, bestätigten mehrere Lehrerinnen gegenüber ORF.at.

Tests „nicht geeignet, um Potenziale zu erkennen“

„Es ist ganz schwierig, mit dem Druck von Eltern umgehen zu können“, zeigt die Bildungswissenschaftlerin Corinna Geppert Verständnis für den Wunsch der Lehrerinnen. Ein Aufnahmetest würde jedoch den Druck nur auf die Kinder abladen: „Es geht ja um das Wohl der Schülerinnen und Schüler, und da sind solche Tests sehr problematisch.“ Denn dann würde die Entscheidung davon abhängen, „wie dieses Kind an diesem einen Tag mit einem Test umgeht. Einem Test, der meist nur misst, wie gut die Kinder mit dem Test umgehen können, und nicht unbedingt die Inhalte.“

„Aus aller Forschung, die wir zu nationalen und internationalen Assessments kennen, sind solche Tests nicht geeignet, um irgendetwas über die Leistung der Schüler und Schülerinnen auszusagen“, so Geppert, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien, im Gespräch mit ORF.at. Vor allem seien sie nicht geeignet, die Potenziale von Schülern und Schülerinnen zu erkennen.

Schulkinder in Klasse
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In der vierten Klasse Volksschule werden die Weichen für den weiteren Bildungsweg gestellt

Messverfahren als „flankierende Argumentationshilfe“

Die Anmeldung für die AHS wird auch in Zukunft vom Halbjahreszeugnis der vierten Klasse Volksschule abhängen, bekräftigt das Büro von ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann gegenüber ORF.at. Um dennoch Druck von den Volksschullehrerinnen zu nehmen, soll ein Messverfahren als „objektives Instrument, zusätzlich zur Beurteilung durch die Lehrkräfte“ eingesetzt werden. Geplant ist ein zweistufiges vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens (BIFIE) entwickeltes Verfahren: die individuelle Kompetenz- und Potenzialmessung (iKPM). Diese soll ab dem Schuljahr 2022/23 durchgeführt werden und damit auch die bisherigen Bildungsstandardüberprüfungen ablösen.

In der dritten Klasse Volksschule soll durch die iKPM individueller Unterstützungsbedarf festgestellt werden. In der vierten Klasse wird dann überprüft, ob die Maßnahmen gegriffen haben. Die Ergebnisse dieser Messungen sollen in verbindliche Elterngespräche einfließen, so das Bildungsministerium – als „flankierende Argumentationshilfe“ für Volksschullehrerinnen und um die Beurteilungsgrundlage für die Eltern „nachvollziehbarer und objektiver“ zu machen.

„Aus den steigenden Anmeldezahlen an Gymnasien, insbesondere im urbanen Raum, resultiert ein Notendruck, den sowohl Kinder und Eltern als auch Pädagoginnen und Pädagogen zu spüren bekommen“, heißt es dazu aus dem Bildungsministerium. Durch das Messverfahren soll „die Treffsicherheit der Bildungswegentscheidungen von den Volksschulen in die weiterführenden Schulen“ erhöht werden. Man wolle damit „Druck lösen und nicht aufbauen“.

Das Anmeldeprozedere für AHS und NMS bleibt laut Ministerium aber unverändert. Auch in Zukunft sollen sich die Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse Volksschule mit dem Halbjahreszeugnis in der AHS oder NMS ihrer Wahl anmelden: „Das Zeugnis bleibt Entscheidungsgrundlage.“ Entgegen früheren Berichten sollen die Ergebnisse der Messungen auch nicht der AHS, an der ein Kind angemeldet wird, vorgelegt werden.

Rekordschülerzahlen in AHS

Die AHS-Unterstufe verzeichnete im vergangenen Schuljahr mit knapp 120.000 Schülern und plus 1,5 Prozent einen neuen Höchststand. Umgekehrt war die Entwicklung in Hauptschule und NMS: Mit knapp 208.000 Schülerinnen und Schülern wurde ein neuer Tiefstand seit dem Schuljahr 1965/66 erreicht. Einen neuen Rekord hatte im vergangenen Schuljahr mit über 92.000 Schülerinnen und Schülern und plus 0,3 Prozent auch die AHS-Oberstufe. Umgekehrt verzeichnete die BHS mit minus 1,2 Prozent einen leichten Rückgang auf knapp 144.000 Jugendliche.

Voraussetzung für die Aufnahme in die AHS ist, dass im Zeugnis in Deutsch, Lesen und Mathematik keine schlechtere Note als „Gut“ steht und alle anderen Pflichtgegenstände positiv abgeschlossen wurden. Bei einem „Befriedigend“ in einem oder mehreren Pflichtgegenständen kann die Schulkonferenz der Volksschule trotzdem die Eignung für die AHS aussprechen, wenn aufgrund der sonstigen Leistungen zu erwarten ist, dass das Kind den Anforderungen entsprechen wird.

Keine Veränderung bei Schülerströmen durch NMS

Als die NMS 2008 von der damaligen Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) auf Schiene gebracht wurde, war die Idee, die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg nach der Volksschule um vier Jahre nach hinten zu verlagern. Davon erhoffte man sich mehr Chancengleichheit. Da die AHS-Unterstufe aber parallel dazu weitergeführt wurde, ist die NMS nie zur Gesamtschule geworden: Wer bisher in die Hauptschule ging, geht nun in die NMS – die mit dem Pädagogikpaket von Bildungsminister Faßmann das „Neue“ im Namen verliert und künftig nur noch „Mittelschule“ heißen wird.

Die Schülerströme haben sich seit der Einführung der NMS „gar nicht verändert“, bestätigt auch Bildungswissenschaftlerin Geppert. Den Drang zur AHS könne man kaum lösen: „Es gibt sicher viele Eltern, die jeden Weg auf sich nehmen würden, damit ihr Kind in eine AHS geht. Die, die ins Gymnasium wollen, die schaffen das irgendwie. Teilweise, indem sie in Privatschulen gehen. Solange es freie Schulwahl gibt – und das ist ja an sich etwas Gutes –, wird man die Schülerströme nicht lenken können.“

Dass die Einführung einer Gesamtschule die Lösung ist, bezweifelt Geppert allerdings. „Wenn man auf alle Schulen entweder AHS oder NMS schreibt, dann gibt es trotzdem Schulen, die als ,gute Gesamtschule’ gelten, und Schulen, die als ,weniger gute Gesamtschule’ gelten. Den Elternwillen kann man nicht steuern.“ Zudem würden die Privatschulen noch mehr ausgebaut werden: „Wir sehen das in Gesamtschulländern. Dort ist der Privatschulsektor sehr stark, weil die Eltern dann diesen Weg wählen.“