Labour-Chef Jeremy Corbyn
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Labour-Revolte

Brexit zersetzt politisches System

Die britischen Großparteien haben sich im Gezerre um den Brexit von der politischen Mitte verabschiedet und radikalere Positionen angenommen. Bei Labour hatte das zu Wochenbeginn eine Abspaltung von mehreren Abgeordneten zur Folge – doch auch Premierministerin Theresa May steht mit dem Rücken zur Wand.

Die derzeitigen Vorgänge in Großbritanniens Labour Party gemahnen ein wenig an das Jahr 1981: Damals traten vier prominente Mitglieder („Gang of Four“), darunter der frühere Außenminister David Owen, aus der Partei aus und gründeten eine neue Bewegung, die SDP (Social Democratic Party). Am Montag dieser Woche verließen sieben gewichtige Mitglieder aus Protest gegen Parteichef Jeremy Corbyn die Labour-Partei. Ihre Abspaltung wollen sie vorerst allerdings nicht als Gründung einer neuen Partei verstanden wissen, sie bezeichnen sich als „unabhängige Gruppe“ im Parlament.

„Die Labour-Partei, der wir beigetreten sind, für die wir gekämpft haben und an die wir geglaubt haben, ist nicht mehr die Labour-Partei von heute“, erklärten die sieben Abtrünnigen Chris Leslie, Chuka Umunna, Luciana Berger, Angela Smith, Gavin Shuker, Mike Gapes und Ann Coffey am Montag. Sie stoßen sich am Umgang mit antisemitischen Tendenzen in der größten Oppositionspartei, vor allem aber an dem schlingernden Brexit-Kurs. Eine weitere Abgeordnete kehrte der Partei am Dienstagabend den Rücken.

Widerstand gegen zweites Referendum

Eine Mehrheit der Labour-Mitglieder ist gegen den Brexit und will ein zweites Referendum über den Verbleib in der EU, Corbyn aber sträubt sich dagegen. Er glaubt, analysierte die „Zeit“, seine „sozialistische Politik besser außerhalb der EU als innerhalb eines Korsetts von EU-Vorschriften“ umsetzen zu können. Außerdem hat Corbyn aus seiner Abneigung gegen den gemeinsamen Markt und die EU nie einen Hehl gemacht. Die innerparteiliche Vereinbarung, die besagt, dass sich Labour für eine zweite Volksabstimmung starkmachen sollte, sofern es nicht gelingt, eine Neuwahl zu erzwingen, kümmert Corbyn wenig.

Ausgetretene Labour-Abgeordnete
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Ann Coffey, Angela Smith, Chris Leslie, Mike Gapes, Luciana Berger, Gavin Shuker and Chuka Umunna kehrten Labour den Rücken

Der Streit über den Parteivorsitzenden reicht allerdings weiter: Unter Corbyns Führung hat sich Labour radikal vom einst wirtschaftsfreundlichen Kurs unter Tony Blair und Gordon Brown abgewandt und sich einer prononciert linken Agenda verschrieben. Eisenbahngesellschaften, Energiefirmen, Busunternehmen oder die Royal Mail sollen verstaatlicht, die reichsten fünf Prozent der Briten stärker besteuert werden. Unter dem bald 70-Jährigen ist Labour von einer „Maschine der harten Linken“ gekapert worden, beklagten die Parteiabtrünnigen.

„Institutionell antisemitische Partei“

Zudem werden seit Jahren Antisemitismusvorwürfe gegen Corbyn und seinen Apparat erhoben. Im vergangenen Sommer räumte er öffentlich in einem Video ein, dass Disziplinarverfahren gegen antisemitische Parteimitglieder zu langsam und zaghaft betrieben worden seien. Luciana Berger, jüdische Abgeordnete für Liverpool, hatte in der Vergangenheit wegen ihrer Kritik an Corbyn massive judenfeindliche Angriffe erfahren. Sie erklärte Labour zu einer „institutionell antisemitischen Partei“. Es wäre „peinlich und beschämend“ zu bleiben, sagte sie bei ihrem Austritt am Montag.

Doch nicht nur bei Labour zeigen sich Zerfallserscheinungen, auch die Torys bieten im Gezerre um den Brexit ein mitunter beschämendes Bild. Die Hardliner um Jacob Rees-Mogg, die „No Deal“ bevorzugen, haben das Sagen übernommen und treiben Premierministerin Theresa May vor sich her. Den von ihr mit der EU ausgehandelten Brexit hat das Parlament klar abgelehnt, und es zeigt sich seither unfähig, einen Kurs zu finden. Die Gefahr eines ungeregelten EU-Austritts am 29. März steigt somit rasant – und im Gleichschritt dazu der Verlust an Vertrauen in das politische System.

Labour-Abgeordneter Chuka Umunna
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Umunna fordert „Gleichgesinnte auf, ebenfalls ihre Partei zu verlassen“

Der prominenteste der sieben Labour-Rebellen, Hoffnungsträger Chuka Umunna, formulierte es so: „Es ist Zeit, dass wir die ewig gestrige Politik aufgeben und eine Alternative bieten, die dem gerecht wird, was wir heute sind. Wir fordern andere Gleichgesinnte auf, ebenfalls ihre Partei zu verlassen und zu uns zu kommen.“ „Sieben Leute in Westminster“ seien schließlich zu wenig, um der Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik ein Ende zu bereiten.

Die Abspaltung bei der Opposition könnte somit auch für May gefährlich werden, wie der „Guardian“ am Dienstag schrieb: „Es wird angenommen, dass mindestens zwei Tory-Abgeordnete ernsthaft darüber nachdenken, und weitere könnten folgen, darunter Sarah Wollaston, Heidi Allen und Nick Boles.“ Wollaston klagte auf Twitter: „Bald wird nichts mehr übrig sein, um Wähler aus der politischen Mitte anzusprechen.“

„Spannungen an Grenze der Belastbarkeit“

Die „Times“ hält entscheidende Umwälzungen in der Politlandschaft jedenfalls für möglich: „Der entscheidende Moment für Labour und die Torys wird Ende dieses Monats kommen, wenn die Abgeordneten entscheiden müssen, ob sie Mays Deal mit der EU unterstützen oder den Brexit hinausschieben wollen. Dann könnten die Spannungen im Parteiensystem die Grenze der Belastbarkeit erreichen und Träume von einer Neuausrichtung sogar noch Realität werden.“ Der ehemalige Chef der europafeindlichen Partei UKIP, Nigel Farage, pflichtete am Dienstag bei – das gegenwärtige Parteiensystem könne den Brexit einfach nicht bewältigen.