Die britische Premierministerin Theresa May
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Brexit-Turbulenzen

Drei Torys schließen sich Labour-Rebellen an

Die Zerfallserscheinungen bei den britischen Großparteien im Zuge des Brexits nehmen ihren Lauf. Bei Labour hatten sich am Montag mehrere Abgeordnete abgespalten und zu einer unabhängigen Gruppe im Parlament zusammengetan. Schneller als erwartet erhielt diese am Mittwoch Zuwachs – drei Tory-Abgeordnete schlossen sich ihr an.

Die acht gewichtigen Mitglieder hatten aus Protest gegen Parteichef Jeremy Corbyn zu Wochenbeginn die Labour-Partei verlassen. Ihre Abspaltung wollten sie vorerst allerdings nicht als Gründung einer neuen Partei verstanden wissen, sie bezeichnen sich als unabhängige Gruppe im Parlament. Zu dieser gesellten sich nun drei Abgeordnete aus einst gegnerischen Reihen.

Heidi Allen, Sarah Wollaston und Anna Soubry verkündeten ihre Entscheidung in einem Brief an Tory-Premierministerin Theresa May. Der Streit über den Brexit habe die Partei verändert und „alle Bemühungen um ihre Modernisierung zunichtegemacht“, begründeten sie ihren Schritt. Die Politik brauche eine schnelle, radikale Reform, „und wir sind entschlossen, unseren Beitrag zu leisten“. May äußerte ihr Bedauern, sagte aber, sie werde „an einer vernünftigen, moderaten und patriotischen Politik festhalten“.

Die Abgeordnete Sarah Wollaston
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Wollaston fühlt sich bei den Torys nicht mehr aufgehoben

Doch die Torys haben schon heute keine Mehrheit im Unterhaus mehr, sondern sind auf die Stimmen der zehn Abgeordneten der nordirischen protestantischen DUP angewiesen. Dass die Abspaltung bei der Opposition auch für die Regierungschefin gefährlich werden könnte, hatte der „Guardian“ bereits am Dienstag gemutmaßt. Ein Tweet von Wollaston wirkte zudem wie ein Warnschuss: „Bald wird nichts mehr übrig sein, um Wähler aus der politischen Mitte anzusprechen.“

„Nicht mehr die Partei von heute“

Ähnlich hatten die sieben Labour-Abtrünnigen Chris Leslie, Chuka Umunna, Luciana Berger, Angela Smith, Gavin Shuker, Mike Gapes und Ann Coffey am Montag argumentiert: „Die Labour-Partei, der wir beigetreten sind, für die wir gekämpft haben und an die wir geglaubt haben, ist nicht mehr die Labour-Partei von heute.“ Sie stoßen sich am Umgang mit antisemitischen Tendenzen in der größten Oppositionspartei, vor allem aber an dem schlingernden Brexit-Kurs. Eine weitere Abgeordnete, Joan Ryan, kehrte der Partei am Dienstagabend den Rücken.

Eine Mehrheit der Labour-Mitglieder ist gegen den Brexit und will ein zweites Referendum über den Verbleib in der EU, Corbyn aber sträubt sich dagegen. Er glaubt, analysierte die deutsche „Zeit“, seine „sozialistische Politik besser außerhalb der EU als innerhalb eines Korsetts von EU-Vorschriften“ umsetzen zu können. Außerdem hat Corbyn aus seiner Abneigung gegen den gemeinsamen Markt und die EU nie einen Hehl gemacht. Die innerparteiliche Vereinbarung, die besagt, dass sich Labour für eine zweite Volksabstimmung starkmachen sollte, sofern es nicht gelingt, eine Neuwahl zu erzwingen, kümmert Corbyn wenig.

Ausgetretene Labour-Abgeordnete
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Ann Coffey, Angela Smith, Chris Leslie, Mike Gapes, Luciana Berger, Gavin Shuker und Chuka Umunna (v. l. n. r.) kehrten Labour den Rücken

Der Streit über den Parteivorsitzenden reicht allerdings weiter: Unter Corbyns Führung hat sich Labour radikal vom einst wirtschaftsfreundlichen Kurs unter Tony Blair und Gordon Brown abgewandt und sich einer prononciert linken Agenda verschrieben. Eisenbahngesellschaften, Energiefirmen, Busunternehmen und die Royal Mail sollen verstaatlicht, die reichsten fünf Prozent der Briten stärker besteuert werden. Unter dem bald 70-Jährigen sei Labour von einer „Maschine der harten Linken“ gekapert worden, beklagten die Parteiabtrünnigen.

„Institutionell antisemitische Partei“

Zudem werden seit Jahren Antisemitismusvorwürfe gegen Corbyn und seinen Apparat erhoben. Im vergangenen Sommer räumte er öffentlich in einem Video ein, dass Disziplinarverfahren gegen antisemitische Parteimitglieder zu langsam und zaghaft betrieben worden seien. Luciana Berger, jüdische Abgeordnete für Liverpool, hatte in der Vergangenheit wegen ihrer Kritik an Corbyn schwere judenfeindliche Angriffe erfahren. Sie erklärte Labour zu einer „institutionell antisemitischen Partei“. Es wäre „peinlich und beschämend“ zu bleiben, sagte sie bei ihrem Austritt am Montag.

Doch die Zerfallserscheinungen sind, wie am Mittwoch wieder sichtbar wurde, nicht auf Labour beschränkt, auch die Torys bieten im Gezerre um den Brexit ein mitunter beschämendes Bild. Die Hardliner um Jacob Rees-Mogg, die „No Deal“ bevorzugen, haben die Oberhand gewonnen übernommen und treiben May vor sich her. Den von ihr mit der EU ausgehandelten Brexit hat das Parlament klar abgelehnt, und es zeigt sich seither unfähig, einen Kurs zu finden. Die Gefahr eines ungeregelten EU-Austritts am 29. März steigt somit rasant – und im Gleichschritt dazu der Verlust an Vertrauen in das politische System.

Labour Party Obmann Jeremy Corbyn
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Corbyn hat im Sommer eingeräumt, dass Labour ein „echtes Problem“ mit Antisemitismus habe

Der prominenteste der sieben Labour-Rebellen, Hoffnungsträger Chuka Umunna, formulierte es so: „Es ist Zeit, dass wir die ewiggestrige Politik aufgeben und eine Alternative bieten, die dem gerecht wird, was wir heute sind. Wir fordern andere Gleichgesinnte auf, ebenfalls ihre Partei zu verlassen und zu uns zu kommen.“ „Ein paar Leute in Westminster“ seien schließlich zu wenig, um der Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik ein Ende zu bereiten.

„Spannungen an Grenze der Belastbarkeit“

Die „Times“ hält entscheidende Umwälzungen in der Politlandschaft jedenfalls für möglich: „Der entscheidende Moment für Labour und die Torys wird Ende dieses Monats kommen, wenn die Abgeordneten entscheiden müssen, ob sie Mays Deal mit der EU unterstützen oder den Brexit hinausschieben wollen. Dann könnten die Spannungen im Parteiensystem die Grenze der Belastbarkeit erreichen und Träume von einer Neuausrichtung sogar noch Realität werden.“ Der ehemalige Chef der europafeindlichen Partei UKIP, Nigel Farage, pflichtete dem bei – das gegenwärtige Parteiensystem könne den Brexit einfach nicht bewältigen.