Britische Premierministerin Theresa May
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Brexit-Chaos

Eigene Minister drohen May

Der Druck in Sachen Brexit auf die britische Premierminister Theresa May in ihrem Kabinett wächst. Mehrere britische Minister wollen May einem Zeitungsbericht zufolge im Parlament die Gefolgschaft verweigern, wenn sie nicht einer Brexit-Verschiebung zustimmt.

Die britische Boulevardzeitung „The Sun“ berichtete am Mittwoch, prominente Kabinettsmitglieder wie Arbeitsministerin Amber Rudd, Justizminister David Gauke und Wirtschaftsminister Greg Clark hätten May aufgefordert, den für Ende März geplanten Austritt des Landes aus der EU zu verschieben und damit die Möglichkeit eines „No Deal“-Brexits vom Tisch zu nehmen. Andernfalls würden sie mit 20 weiteren Abgeordneten für eine Initiative der oppositionellen Labour-Partei stimmen.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker äußerte sich pessimistisch zu den Aussichten für einen geordneten Austritt Großbritanniens. Seine Bemühungen um eine Lösung seien darauf ausgerichtet, das Schlimmste zu vermeiden, sagte Juncker am Donnerstag in Brüssel. „Aber ich bin nicht sehr optimistisch“, fügte er im Wirtschafts- und Sozialausschuss hinzu.

Britische Premierministerin Theresa May mit dem Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker
AP/Olivier Matthys
May und Juncker bei ihrem Treffen am Mittwoch

Verheerende wirtschaftliche Folgen erwartet

Juncker begründete seine Einschätzung einen Tag nach einem Treffen mit May damit, dass es bei jeder Abstimmung im britischen Parlament nur eine Mehrheit gegen etwas gebe, aber nicht für etwas. Sollte es einen ungeregelten Brexit geben, hätte das verheerende wirtschaftliche und soziale Folgen für Großbritannien und die EU. May sprach nach dem Treffen mit Juncker am Mittwochabend von Fortschritten. Man sei in den Gesprächen über die irische Grenze weitergekommen.

Das britische Brexit-Chaos lässt auch bei den internationalen Ratingagenturen die Besorgnis wachsen. Die US-Agentur Fitch prüft wegen des ungewissen Ausgangs der Brexit-Verhandlungen eine Herabstufung des britischen „AA“-Ratings. Die jüngsten politischen Entwicklungen und die immer knapper werdende Zeit bis zum Austrittstermin machten einen ungeregelten EU-Austritt immer wahrscheinlicher, teilte die Ratingagentur am Mittwochabend mit.

Herabstufung steht im Raum

Fitch setzte deshalb das Rating für Großbritannien auf „Watch Negative“ und deutete damit eine mögliche bevorstehende Herabstufung der Bonität des Landes an. Ein „Hard Brexit“ würde zumindest kurzfristig die Aussichten für Wirtschaft und Handel in Großbritannien erheblich stören, ergänzten die Experten. Zudem habe sich das britische Wirtschaftswachstum in den vergangenen Monaten abgeschwächt.

Bei einem ungeregelten Brexit ohne Vertrag würden die vereinbarte Übergangsfrist bis Ende 2020 und die Eckpunkte für eine enge Handels- und Sicherheitspartnerschaft entfallen. Die Wirtschaft befürchtet für diesen Fall Verwerfungen, unter anderem wegen langwieriger Zollkontrollen an den Grenzen. Das wollen beide Seiten unbedingt vermeiden.

Unabhängige Gruppe wird größer

Innenpolitisch wird es durch die Drohung der Minister, aber auch durch den Austritt von mehreren Tory-Abgeordneten für May, aber auch für die oppositionelle Labour Party von Jeremy Corbyn immer enger. Am Montag spalteten sich zunächst mehrere Labour-Abgeordnete ab, um sich zu einer unabhängigen Gruppe zusammenzutun. Am Mittwochvormittag schlossen sich ihnen drei Tory-Abgeordnete an.

Heidi Allen, Sarah Wollaston und Anna Soubry verkündeten ihre Entscheidung in einem Brief an Premierministerin und Tory-Chefin May. Der Streit über den Brexit habe die Partei verändert und „alle Bemühungen um ihre Modernisierung zunichtegemacht“, begründeten sie ihren Schritt. Die Politik brauche eine schnelle, radikale Reform, „und wir sind entschlossen, unseren Beitrag zu leisten“. May äußerte ihr Bedauern, sagte aber, sie werde „an einer vernünftigen, moderaten und patriotischen Politik festhalten“.

Die Abgeordnete Sarah Wollaston
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Wollaston fühlt sich bei den Torys nicht mehr aufgehoben

Abspaltung bringt Torys im Parlament unter Druck

Die Torys haben unterdessen schon jetzt keine Mehrheit im Unterhaus mehr, sondern sind auf die Stimmen der zehn Abgeordneten der nordirischen protestantischen DUP angewiesen. Dass die Abspaltung bei der Opposition auch für die Regierungschefin gefährlich werden könnte, hatte der „Guardian“ bereits am Dienstag gemutmaßt. Ein Tweet von Wollaston wirkte zudem wie ein Warnschuss: „Bald wird nichts mehr übrig sein, um Wähler aus der politischen Mitte anzusprechen.“

Ähnlich hatten die sieben Labour-Abtrünnigen Chris Leslie, Chuka Umunna, Luciana Berger, Angela Smith, Gavin Shuker, Mike Gapes und Ann Coffey am Montag argumentiert: „Die Labour-Partei, der wir beigetreten sind, für die wir gekämpft haben und an die wir geglaubt haben, ist nicht mehr die Labour-Partei von heute.“ Sie stoßen sich am Umgang mit antisemitischen Tendenzen in der größten Oppositionspartei, vor allem aber an dem schlingernden Brexit-Kurs. Eine weitere Abgeordnete, Joan Ryan, kehrte der Partei am Dienstagabend den Rücken.

Ausgetretene Labour-Abgeordnete
AP/Kirsty Wigglesworth
Ann Coffey, Angela Smith, Chris Leslie, Mike Gapes, Luciana Berger, Gavin Shuker und Chuka Umunna (v. l. n. r.) kehrten Labour den Rücken

Zweites Referendum gefordert

Eine Mehrheit der Labour-Mitglieder ist gegen den Brexit und will ein zweites Referendum über den Verbleib in der EU, Corbyn aber sträubt sich dagegen. Er glaubt, analysierte die deutsche „Zeit“, seine „sozialistische Politik besser außerhalb der EU als innerhalb eines Korsetts von EU-Vorschriften“ umsetzen zu können. Außerdem hat Corbyn aus seiner Abneigung gegen den gemeinsamen Markt und die EU nie einen Hehl gemacht. Die innerparteiliche Vereinbarung, die besagt, dass sich Labour für eine zweite Volksabstimmung starkmachen sollte, sofern es nicht gelingt, eine Neuwahl zu erzwingen, kümmert Corbyn wenig.

Doch die Zerfallserscheinungen sind, wie am Mittwoch wieder sichtbar wurde, nicht auf Labour beschränkt, auch die Torys bieten im Gezerre um den Brexit ein mitunter beschämendes Bild. Die Hardliner um Jacob Rees-Mogg, die „No Deal“ bevorzugen, haben die Oberhand gewonnen und treiben May vor sich her. Den von ihr mit der EU ausgehandelten Brexit hat das Parlament klar abgelehnt, und es zeigt sich seither unfähig, einen Kurs zu finden.