Arbeiter an einem Drehtisch
Reuters/Darren Staples
Vor Brexit

Britische Wirtschaft baut radikal Jobs ab

Der Brexit sorgt in Großbritannien derzeit nicht nur für politisches, sondern auch für wirtschaftliches Chaos. Aus Furcht vor einem ungeregelten Austritt reagieren britische Unternehmen nun mit radikalem Stellenabbau, Abwanderung und dem Aufstocken ihrer Lager. Auch eine Verschiebung des Austrittsdatums scheint eher neue Probleme zu schaffen, statt alte zu lösen.

Die Arbeitslosenquote in der Euro-Zone ist auf dem niedrigsten Stand seit der globalen Finanzkrise. Doch das könnte sich bald ändern. Denn die britische Industrie hat im Februar so kräftig Stellen gestrichen wie seit sechs Jahren nicht mehr. Auch ein Einbruch im verarbeitenden Gewerbe könnte fatale Auswirkungen nach sich ziehen.

„Offizielle Daten bestätigen, dass sich das verarbeitende Gewerbe bereits in der Rezession befindet“, sagte der Direktor des Londoner Analyseunternehmens IHS Markit, Rob Dobson, am Freitag bei der Präsentation der monatlichen Unternehmensumfrage. Die verarbeitende Industrie macht etwa zehn Prozent der gesamten britischen Wirtschaftsleistung aus.

Trügerisches Wachstum

Der Einkaufsmanagerindex, der einen Überblick über die konjunkturelle Lage in der Industrie bietet, fiel für die gesamte Geschäftstätigkeit wie von Ökonomen erwartet um 0,6 auf 52,0 Punkte. Das Barometer hielt sich damit zwar über der Marke von 50 Zählern, ab der es Wachstum signalisiert, dennoch dürfe die überschrittene Fünfzigermarke nicht zu positiv gesehen werden.

Denn das Wachstum ist nur ein scheinbares, es lässt sich im Wesentlichen auf die steigenden Vorratskäufe der Unternehmen zurückführen. Die Betriebe stockten ihre Lager aus Furcht vor einem chaotischen EU-Austritt so kräftig auf wie noch nie. Ohne diese Vorratskäufe läge der Index deutlich unter 52 Punkten, so IHS Markit.

Industrie und Handel bunkern Vorräte

Auch wegen der drohenden Lieferengpässe horten britische Unternehmen bereits Importware, die sie für ihre Produktion dringend benötigen. Inzwischen sind in Großbritannien aber kaum mehr Lagerflächen zu bekommen, da neben Industriebetrieben auch Supermärkte Lebensmittel auf Vorrat bunkern.

Staplerfahrer in einem Lagerhaus
APA/AFP/Oli Scarff
Industrie und Handel bunkern Vorräte – doch Lagerflächen sind in den vergangenen Monaten zum knappen Gut geworden

Rund die Hälfte der Waren wird importiert. Zwar könnten die Supermarktketten Konserven und Ähnliches in ihren Lagern horten – für frische Lebensmittel sei das aber keine Option, sagte etwa der Chef der größten Supermarktkette Tesco, Dave Lewis.

Londoner Börse streicht 250 Jobs

Die Londoner Börse wappnet sich hingegen für den Brexit, indem sie auf die Kostenbremse drückt. 250 Jobs oder fünf Prozent der Stellen sollen gestrichen werden, kündigte die London Stock Exchange (LSE) am Freitag an. Dadurch will die Börse jährlich 30 Millionen Pfund (35 Mio. Euro) einsparen. „Wir sind sehr gut vorbereitet auf was auch immer beim Brexit passiert“, sagte Konzernchef David Schwimmer.

Im Falle eines harten Brexits will die Londoner Börse zudem den europäischen Aktienhandel für EU-Kunden verlagern. Die Handelsplattform Turquoise werde die dafür nötige Lizenz in Amsterdam voraussichtlich in Kürze erhalten, sagte Schwimmer. Sollte Großbritannien sich mit der EU auf eine Übergangsregelung einigen, werde der Handel von auf Euro lautenden Aktien aber in London bleiben.

Britische Regierung wirbt um Investitionen

Die Londoner Börse ist nicht das erste Unternehmen, das aufgrund des Brexit-Chaos eine Abwanderung erwägt. Der Elektronikgigant Sony etwa verlegte bereits seinen europäischen Hauptsitz von London nach Amsterdam, der Staubsaugerhersteller und Brexit-Befürworter Dyson verkündete eine Verlegung der Firmenzentrale nach Singapur.

Vor dem Hintergrund der Konzernabwanderungen betonte die britische Regierung ihre Offenheit für Investoren. „Großbritannien ist offen für Geschäfte und bleibt ein attraktives Ziel für ausländische Direktinvestitionen“, sagte der für den internationalen Handel zuständige Minister Liam Fox im Jänner beim Weltwirtschaftsforum in Davos.

„Unsicherheit belastet die Unternehmen“

Auch auf der Genfer Automesse ist die Furcht vor einem ungeregelten Brexit zu spüren. Fast alle Autohersteller haben bereits Notfallpläne aufgesetzt, um auf das Worst-Case-Szenario vorbereitet zu sein. „Die dauernde Unsicherheit belastet die Unternehmen, weil niemand weiß, ob es einen harten oder weichen Austritt geben wird“, sagte Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management. Je nachdem, welchen Weg Großbritannien wählt, könnten die Auswirkungen auf die Liefer- und Wertschöpfungsketten in diesem Jahr enorm sein, so Bratzel.

Michel Barnier und Sebastian Kurz
AP/Michael Gruber
Barnier steht einer Verlängerung skeptisch gegenüber, schließlich solle das Problem nicht nur hinausgeschoben werden

Barnier: Verlängerung der Brexit-Verhandlungen möglich

Doch auch eine Verschiebung des Austrittsdatums wäre keine Gewähr dafür, dass sich das britische Parlament am Ende doch noch auf das von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen einigt. Nach Einschätzung des EU-Brexit-Chefverhandlers Michel Barnier ist eine Verlängerung der Verhandlungsperiode zwar grundsätzlich möglich – allerdings stelle sich die Frage, „wofür und wozu“, wie er gestern bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Sebastian Kurz und EU-Minister Gernot Blümel (beide ÖVP) in Wien sagte.

„Eine Verlängerung kann technisch sein, um dem britischen Parlament die Zeit zu geben, ein Gesetz für die Umsetzung des Austrittsvertrags zu verabschieden. Wenn das nicht der Fall ist, dann müssen wir uns fragen: Wozu soll die Verlängerung dienen? Das Problem soll ja nicht hinausgeschoben werden, das Problem soll gelöst werden“, sagte Barnier.

Warnungen vor einer längeren Brexit-Verschiebung

Im Europaparlament häufen sich indes die Warnungen vor einer längeren Verschiebung des britischen EU-Austritts. „Eine Verlängerung der Brexit-Verhandlungen über den 23. Mai hinaus gefährdet die rechtmäßige Durchführung der Europawahlen sowie die Konstituierung des neuen Europäischen Parlaments“, erklärte der deutsche Europapolitiker Jo Leinen (SPD) heute.

Vom 23. bis 26. Mai sind Europawahlen. Nach EU-Recht sind alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, Abgeordnete wählen zu lassen. Unter EU-Juristen und -Juristinnen ist umstritten, ob der Wahltermin selbst maßgeblich ist oder erst die Konstituierung des neuen Parlaments am 2. Juli.

Leinen sagte: „Sollte die Brexit-Frist verlängert werden und das Vereinigte Königreich nicht an den Wahlen teilnehmen, drohen Klagen mit hoher Aussicht auf Erfolg. Es besteht die Gefahr, dass sich das Europäische Parlament nicht konstituieren kann und damit eine Lähmung der Europäischen Union eintritt.“