Die amerikanische Autorin Siri Hustvedt
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Siri Hustvedt

Leben in der Stadt der Kakerlaken

Siri Hustvedt, eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA und zugleich anerkannte Wissenschaftlerin, präsentiert dieser Tage beide Seiten ihres professionellen Doppellebens: einen Essayband und einen großen neuen Roman, der ausufernd und höchst fesselnd darauf zurückblickt, wie sie zu dem wurde, was sie ist.

„Damals“ heißt der neue Roman, „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ das essayistische Buch – und in letzterem Titel stecken mindestens zwei Aspekte von Hustvedts Schreiben: eine zurückgelehnte und zugleich ungeheuer scharfsichtige Analytik, die die sieben Romane und Essaybände der heute 64-jährigen Autorin gleichermaßen auszeichnet. Und ein unnachgiebiges Forschen in Sachen Geschlechterfragen.

Macht das ihre Bücher zu „klassischer Frauenliteratur“, wie ihr die Kritik manchmal unterstellt? Als eine „Verbannung ins ‚Ghetto weiblichen Schreibens’“ bezeichnet Hustvedt dieses Label in ihrem neuen Essayband, also als klassische Marginalisierungsstrategie. Dem Wettstreit um die männliche Gunst, als gleichrangig anerkannt zu werden, hat sie jedenfalls schon früh – und erhobenen Hauptes – eine Absage erteilt und ihre ganz eigenen Texte geschrieben. Für Frauen und Männer gleichermaßen, wie sie stets betont.

Spröde, mitreißend, selbstbefragend

Auch abseits der Geschlechterfrage gilt: Hustvedt verwehrt sich den einfachen Zuschreibungen, ist eine fachliche Grenzgängerin, etwa in ihrem Bemühen, die Diskrepanzen zwischen Naturwissenschaften und Literatur zu überwinden. Vor allem in „Die zitternde Frau“ (2010), ihrem beeindruckenden, Medizin, Psychoanalyse und Literatur verbindenden Roman, der von ihrem wiederkehrenden, unkontrollierbaren Zittern handelte – und jetzt auch hier, in ihrem neuen Roman, der ebenfalls als genreübergreifender Fleckerlteppich daherkommt.

Die amerikanische Autorin Siri Hustvedt
Marion Ettinger
Hustvedt verwehrt sich den einfachen Zuschreibungen

Aber noch einmal zurück zu Hustvedt selbst: Schreibt man über ihre Person, dann ist fast unweigerlich ein weiterer Name auf dem Tapet – nämlich der von Paul Auster. Seit mehr als 30 Jahren sind die beiden verheiratet, das wohl bekannteste und schillerndste Schriftstellerpaar Amerikas. Als sie einander kennenlernten, war Hustvedt noch Studentin, die auf ihren Durchbruch mit „Was ich liebte“ (2003) noch gute 15 Jahre warten musste.

Vielleicht war es die Rezeption im Schatten ihres schon früh erfolgreichen Mannes, die sie ein scharfes Sensorium für Sexismus entwickeln ließ, das jetzt in ihre – übrigens oft für die „bessere“ gehaltene – Literatur einfließt: Während Auster eher der Mann für das Spannend-Halbseidene, dramaturgisch Glattere ist, ist Hustvedts Schreiben auf eine angenehme Art spröde, mitreißend, selbstbefragend und bis zur Widersprüchlichkeit komplex, ohne dadurch an Lockerheit einzubüßen.

„Spiel mit der Autobiografie“

In „Damals“ untersucht Hustvedt, wie sie zu dem wurde, was sie ist – was natürlich, wie schon so oft, ein „Spiel mit der Autobiografie“ ist, wie sie im Interview mit „Publishers Weekly“ sagte. Sei’s drum: Erinnern und Fantasieren, so stellt sie hier fest, gehen sowieso ineinander über.

Man schreibt das Jahr 1978, als eine 23-Jährige namens S. H. aus der Provinz nach New York zieht, in „eine Stadt der Messer und Schusswaffen, der Kakerlaken, Ratten und aufgetürmten Müllberge, aber es war eine Stadt, die vor Ideen sprühte, und Ideen formen unsere Wahrnehmung und unsere Erinnerung.“ In diesem verheißungsvoll aufgeladenen Sinn ist auch das trostlose Manhattaner Apartment für die junge Frau ein wunderbarer, fast ideal anmutender Ort, um sich ein Schreibjahr zu gönnen, bevor sie mit ihrer Dissertation an der Columbia University beginnt.

Mischkulanz aus Memoiren, Anekdoten und Reflexionen

„Ich strebte danach, ein hochgesinnter, heiliger und außerordentlich guter Mensch zu sein“, ist einer der Sätze, mit dem Hustvedt die Distanz zwischen damals und heute subkutan vermisst, liebevoll und doch ein wenig spöttisch. Was aber nur eine Tonart dieses verschachtelten Buchs ist, das vor allem durch ein seitenweise zitiertes Tagebuch vorangetrieben wird, das Hustvedt 40 Jahre später findet. Abseits des Dialogs zwischen dem jungen und dem alten Ich spannt Hustvedt hier einmal mehr den Bogen von Fragen zur Kunst des Geschichtenerzählens, über die weibliche Identitätsfindung bis hin zum Leben im Amerika von heute.

Buchhinweise

  • Siri Hustvedt: Damals. Rowohlt, 448 Seiten, 24,70 Euro.
  • Siri Hustvedt: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen. Essays über Kunst, Geschlecht und Geist. Rowohlt, 528 Seiten, 26,80 Euro.

Das könnte alles unübersichtlich werden: Zum einen muss die junge Autorin S. H. die Idee der Autorin als Strippenzieherin über Bord werfen, weil ihr ihr Projekt zusehends entgleitet. Und auch die gegenwärtige Siri Hustvedt scheint vom einem Sog aus Memoiren, Anekdoten und Reflexionen erfasst zu werden. Das Tohuwabohu geht aber durchaus auf, weil es eben von einem packenden Grundplot zusammengehalten wird, dessen grundsätzliche Message lautet: Das Leben läuft nicht immer von A nach B und hält auch für belesene Youngsters mit hochtrabenden Ambitionen viele Demütigungen bereit.

Hunger und eine Fast-Vergewaltigung

Der schambesetzte Hunger, der S. H. streckenweise Mistkübel nach Essen durchsuchen ließ, scheint heute noch lebhaft in Erinnerung. Alles in den Schatten stellt jedoch der traumatische Wendepunkt der Geschichte, eine Fast-Vergewaltigung. Die Gewalt, die Hustvedt reflektiert, ist aber weit umfassender als die direkten, körperlichen Attacken.

Beginnend beim liebevollen Medizinervater, der sie immer nur als Krankenschwester sah, über einen selbstgerechten Philosophen, dessen falsche Schlüsse S. H. kontert, bevor sie, überwältigt von ihrem eigenen Mut, in Ohnmacht fällt, bis hin zum größeren Zusammenhang – nämlich dem, wie die Kunstwelt gerne mit Frauen verfährt. Konkret buchstabiert Hustvedt die Ungleichbehandlung am Beispiel der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven aus, der sie postum Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Das Urinal der Baroness

Die Adelige war im New York der 1910er und 1920er Jahre als exzentrische Dada-Künstlerin und „phallische Wortspielerin“ populär, ehe sie in Vergessenheit geriet. Nur wenige wissen, was heute eine kurze Notiz auf dem zugehörigen Wikipedia-Eintrag ist: Von Freytag-Loringhoven ist eigentlich die Urheberin von „Fountain“, dem wohl einflussreichstes Kunstwerk des gesamten 20. Jahrhunderts. Das Urinal, das als erstes Readymade in die Geschichte einging, reklamierte später Marcel Duchamp für sich. Zu Unrecht, wie jetzt auch Hustvedt meint.

Die Installation „Fountain“ von Marcel Duchamp
Reuters/Toby Melville
„Fountain“: Die eigentliche Urheberin des Kunstwerks geriet in Vergessenheit

Trost, Ermutigung und eine gute Portion Frechheit: Hustvedt lässt die Baroness sozusagen als Leitfigur auftreten. Bei all den Härten, die hier fein säuberlich und bis ins letzte Detail ausgebreitet und reflektiert werden, ist es doch eine heitere Gelassenheit, die Hustvedts selbst erkundende Memoiren dominiert.