Colin Crouch
ORF.at/Peter Pfeiffer
Colin Crouch

Selbstkritik an der „Postdemokratie“

Mit dem schmalen Buch „Postdemokratie“ wurde Colin Crouch quasi über Nacht zum Star der Politikwissenschaft. Von seiner These, die Demokratie sei auf dem Weg zum Potemkin’schen Dorf, sind bis heute viele seiner Anhänger überzeugt. Mehr als fünfzehn Jahre später unterzieht Crouch seinen Bestseller aber einer Selbstkritik.

Der britische Soziologe, der sich in seinen Anfangsjahren speziell auf Wirtschaftsfragen fokussiert hatte, war über den Erfolg der im Jahr 2003 erschienenen Schrift selbst überrascht. Ein Kollege in Italien, wo Crouch zu dieser Zeit lehrte, habe ihn davon überzeugt, den Essay zu veröffentlichen. Schnell verbreitete sich seine nicht unumstrittene These über die Degenerierung der Demokratie durch Politiker, die nur den Interessen der Konzerne dienen. Zwar würden demokratische Institutionen noch formal bestehen, aber diese seien bloß leere Hüllen.

Aber ist der Soziologe, der bis zu seiner Emeritierung an der University of Warwick lehrte, von seinen Thesen noch überzeugt? Im Jänner hat Crouch einen Entwurf für ein neues Buch mit dem Arbeitstitel „Die Postdemokratie nach den Krisen“ fertiggestellt. Darin diskutiert er die Finanzkrise 2008, die Euro-Krise 2010 und „das, was ich eine Krise nenne, den Aufstieg des Rechtspopulismus“, sagt er im Gespräch mit ORF.at. Er selbst bezeichnet das Buch als „Selbstkritik“, in der er auch seine Ausgangsthese von damals hinterfragt.

Eine Gefahr für die Demokratie

Ein wesentliches Manko, das Crouch nach Jahren eingesteht, ist seine mangelnde Beachtung des Rechtspopulismus. „Ich habe den Einfluss des Rechtspopulismus unterschätzt“, sagt der Brite. Zwar habe er diesen in seinem Bestseller an sich diskutiert, allerdings die Zweideutigkeit für die Demokratie nicht antizipiert. Dabei geht Crouch heute davon aus, dass die Politik des Rechtspopulismus einerseits von der Bevölkerung selbst stammt, jene demokratischen Forderungen, die „die Bequemlichkeit der politischen Eliten“ stören würden.

Andererseits gebe es innerhalb des Rechtspopulismus aber Tendenzen, die gefährlich für die Demokratie sind, so Crouch. Das Volk sei für die Rechtspopulisten immer die Mehrheit, und wer nicht zu der Mehrheit gehöre, „hat keine Rechte“. Der Rechtspopulismus lasse zudem weder Kontroversen noch Diskussionen zu. „Das ist, warum Populismus von rechts oder links potenziell ein Feind der Demokratie ist“, erklärt der Brite. Eine Demokratie, so Crouch, müsse „immer neue Diskussionen“ zulassen und Minderheiten Rechte zugestehen.

Soziologe Colin Crouch über das Wesen der Demokratie

Für den britischen Soziologen Colin Crouch ist die Demokratie auch in Gefahr, wenn sich Bürger und Bürgerinnen nicht daran beteiligen. Es brauche mehr Diskussionen, sagt er im Gespräch mit ORF.at.

Dass sich die Gesellschaft weiterhin auf dem Weg Richtung Postdemokratie befindet, steht für den Soziologen außer Zweifel. Schuld daran ist für ihn damals wie heute der Neoliberalismus, der die Mitbestimmungsrechte der Bürger aushöhlen und den Konzernen eine übermäßige Macht über die Politik verleihen würde. Aber Crouch geht es nicht um eine Dämonisierung der Ideologie, die sowohl Kritiker als auch Apologeten hinter sich versammelt. Er will den Neoliberalismus „radikal verändern“, wie der Brite im Gespräch sagt.

Neoliberale und Rechtspopulisten: „Frenemy“

In seinem Buch „Ist der Neoliberalismus noch zu retten?“, das erst kürzlich erschienen ist, beschreibt Crouch die Vor- und Nachteile einer Strömung, der er selbst kritisch gegenübersteht. Die Vorteile, wie etwa die Ablehnung des Protektionismus, will er behalten, aber die Nachteile, so Crouch, seien für ihn aber „interessanter“. Die Krise 2008 habe nämlich viele Fehler des Neoliberalismus offengelegt. So konnte sich der Markt, wie Neoliberale davor noch angenommen hätten, nicht selbst aus der Misere retten. Der Markt habe den Staat „dringend nötig“. Aus diesen Fehlern müsse man lernen, um solche Krisen künftig zu vermeiden.

Ein anderer Aspekt, der für Crouch nicht unwesentlich ist, ist der seiner Meinung nach „schmutzige Kompromiss“ zwischen Rechtspopulisten und Neoliberalen. Auf den ersten Blick würden beide zwar wie Feinde wirken. „Der Neoliberalismus ist global, kennt keine Rassen und keine Nationen. Das ist gegen den Nationalismus des Rechtspopulismus, der gegen die Globalisierung auftritt“, so der Soziologe. Aber sie hätten sich darauf geeinigt, gegen eine übernationale Regulierung zu sein, die den globalen Markt bremsen könnte.

„Die globalisierten Neoliberalen wollen überhaupt keine Regulierung, die Rechtspopulisten nur eine nationalstaatliche, die den globalen Markt nicht angreifen kann“, betont der Forscher. Deshalb würden sich Neoliberale und Rechtspopulisten nicht partout als Feinde sehen. „Auf Englisch gibt es ein Wort, das junge Menschen benutzen und sehr passend für diese Beziehung ist: Frenemy“, sagt Crouch im Gespräch. Dabei handelt es sich um einen Feind, der zugleich ein Freund ist.

Nationale Identität statt Klasse und Religion

Diese Beschreibung klingt allerdings einfacher, als sie ist. So geht der prononcierte Neoliberalismus-Kritiker Crouch davon aus, dass es „viele Neoliberale“ gibt, die gegen die Nationalisten sind – Großkonzerne, die weltweit agieren. Auf der anderen Seite gibt es Rechtspopulisten, die Neoliberale als Feinde sehen würden, wie der Rassemblement National in Frankreich. In Österreich, Ungarn und Italien hingegen stehe der Rechtspopulismus dem Neoliberalismus „ganz nah“. In diesen Ländern würden rechtspopulistische Politiker sich für weniger Regulierungen auf nationaler als auch auf globaler Ebene einsetzen.

Colin Crouch
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Colin Crouch will nur die Vorteile des Neoliberalismus retten – etwa dass dieser gegen Protektionismus auftritt

Dass sich dieses Ziel in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat, macht Crouch am Nationalismus der Rechtspopulisten fest. Dieser sei nämlich so kräftig, dass Rechtspopulisten in Regierungen, in denen sie sitzen, vermehrt den Ton angeben. Denn während man sich früher bei politischen Entscheidungen auf die eigene Klasse oder die Religion verlassen habe, sei die Nation heute die „stärkste Identität“, erklärt Crouch. Und angesichts der anhaltenden Fluchtbewegungen und der um sich greifenden Globalisierung verstärke sich diese Identität noch.

Buchhinweis

Colin Crouch: Postdemocrazia. Laterza Verlag, 148 Seiten.

Folgt man der Argumentation von Crouch, müssten Rechtspopulisten die EU-Wahl im kommenden Mai deutlich gewinnen. Doch der Soziologe glaubt nicht so recht daran. Die Mehrheit interessiere sich gar nicht für die Wahl. Und für jene EU-Bürger, die am Ende ihre Stimme abgeben, sei die „nationale Identität“ nicht so wichtig. „Sie interessieren sich für andere Kulturen, besonders junge Leute fühlen sich multikulturell“, so Crouch. Europa würden sie als Erweiterung ihrer Identität sehen.