Colin Crouch
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Colin Crouch

„Habe Rechtspopulismus unterschätzt“

Der britische Soziologe Colin Crouch hat sich mit seinem schmalen Buch „Postdemokratie“ einen Namen gemacht. Er selbst war vom Erfolg überrascht. Nächstes Jahr soll eine Neuversion des Bestsellers auf den Markt kommen, die Crouchs Thesen hinterfragen soll. Dabei wird wohl auch sein aktuelles Werk über die Rettung des Neoliberalimus einfließen.

ORF.at: Herr Crouch, in Ihrem aktuellen Buch gehen Sie der Frage nach, ob der Neoliberalismus noch zu retten ist. Wollen Sie den Neoliberalismus überhaupt retten?

Colin Crouch: Teilweise, mein Titel ist ein bisschen ironisch. Meiner Meinung nach gibt es Vorteile im Neoliberalismus, die wir nicht verlieren dürfen. So ist er etwa gegen Protektionismus und hat aufgezeigt, dass viele staatliche Systeme ineffizient sind. Aber der Neoliberalismus hat der Wirtschaft auch viele Nachteile gebracht. Wenn die Idee des freien Marktes die Zukunft überleben will, muss sich der Neoliberalismus verändern.

ORF.at: Zur Einordnung: Sie gelten nicht gerade als großer Freund des Neoliberalismus.

Crouch: Für mich sind die Nachteile interessanter. Die Krise von 2008 hat viele Fehler des Neoliberalismus offengelegt. Wir müssen diese Fehler verstehen. Warum ist es zu dieser Krise gekommen? Und wie können wir verhindern, dass es wieder zu solchen Krisen kommt?

ORF.at: Sie wollen den Neoliberalismus also nicht retten, sondern verändern?

Crouch: Ja, ja. Radikal verändern. Es gibt zwei wichtige Elemente, die wir uns genauer anschauen müssen. Erstens kann sich der Markt nicht selbst retten. Eine Forderung des Neoliberalismus ist, dass der Staat nicht eingreifen darf. Aber das ist ein großer Fehler. Denn der Markt ist ein Gemeingut, und das hat den Staat dringend nötig.

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Crouch war für mehrere Tage in Wien und referierte über sein neues Buch

Zweitens geht es um das Verhältnis zwischen Neoliberalismus und Rechtspopulismus. Auf den ersten Blick sind sie Feinde. Der Neoliberalismus ist global, kennt keine Rassen und keine Nationen. Wir sind alle Puzzlestücke des Marktes. Das ist gegen den Nationalismus des Rechtspopulismus, der gegen die Globalisierung auftritt.

ORF.at: Welches Verhältnis meinen Sie?

Crouch: Es gibt einen Kompromiss. Der globalisierte Markt kann nur mit übernationaler Regulierung verändert werden. Und das ist der Punkt: Die globalisierten Neoliberalen wollen überhaupt keine Regulierung, die Rechtspopulisten nur eine nationalstaatliche, die den globalen Markt nicht angreifen kann. Das ist ein schmutziger Kompromiss zwischen den beiden.

ORF.at: Aber ist dieser Kompromiss ein bewusster Akt? Sind Neoliberalismus und Rechtspopulismus nun Freund oder Feinde?

Crouch: Die Frage stellen sich beide Lager. Auf Englisch gibt es ein Wort, das junge Menschen benutzen und sehr passend für diese Beziehung ist: Frenemy. Es handelt sich um einen Feind, der zugleich auch ein Freund ist. Es ist wohl eine Beziehung dieser Art.

Aber es gibt viele Neoliberale, die gegen die Nationalisten sind, wie etwa große Konzerne, und viele Rechtspopulisten, die gegen Neoliberale sind, wie der Front National in Frankreich. Dann gibt es eine andere Art von Rechtspopulisten, die in der nationalen Politik ganz nah dem Neoliberalismus stehen. Zum Beispiel die Brexiteers in Großbritannien, auch in Österreich, Ungarn und Italien. Sie wollen weniger Regulierungen, national wie global.

ORF.at: Wie ist es mit den Linkspopulisten? Welche Verbindung gibt es zum Neoliberalismus?

Crouch: Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen Links- und Rechtspopulisten auf diesen Ebenen. Sie wollen einander als Feinde sehen, aber sie befinden sich auf einem ähnlichen Pfad. Wenn Linkspopulisten eine Rhetorik gegen Einwanderer pflegen, ist der Unterschied zu den Rechtspopulisten noch kleiner. Wenn sie diese Rhetorik vermeiden wie in Griechenland, dann haben sie einen anderen Pfad.

Soziologe Colin Crouch über das Wesen der Demokratie

Für den britischen Soziologen Colin Crouch ist die Demokratie auch in Gefahr, wenn sich Bürger und Bürgerinnen nicht daran beteiligen. Es brauche mehr Diskussionen, sagt er im Gespräch mit ORF.at.

Ein interessantes Beispiel ist die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Sie ist eine aktionistische Bewegung, aber ursprünglich mehr aus dem linken als aus dem rechten Spektrum. Aber in der Regierung mit der Lega folgen sie immer mehr dem rechtspopulistischen Pfad. Der Nationalismus des Rechtspopulismus ist sehr kräftig.

ORF.at: Verstehe ich Sie richtig? Sie sind der Meinung, wenn Rechtspopulisten in einer Regierung sitzen, das ist auch in Österreich der Fall, geben sie die Richtung vor.

Crouch: Lassen Sie mich das so erklären: Es wird immer schwieriger, Antwort auf komplexe Fragen zu geben. Die Menschen sind nicht sehr politisch. Ihre Verbindungen zur Politik sind eher sozialer Natur. Ich bin so und so sozialisiert, deshalb wähle ich diese oder jene Partei.

In der Vergangenheit verließ man sich auf die Religion oder die sozialen Klasse. Heute ist die Nation die stärkste politische Identität, und sie wird angesichts der Globalisierung und der Fluchtbewegungen immer stärker.

ORF.at: Nach dieser Logik müssen die Rechtspopulisten bei der kommenden EU-Wahl deutlich dazugewinnen.

Crouch: Normalerweise gibt es nicht mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, die diese Wahl verfolgen. Die Mehrheit kümmert sich nicht um diese Wahl. Und für jene, die wählen gehen, ist die nationale Identität nicht so wichtig. Sie interessieren sich für andere Kulturen, besonders junge Leute fühlen sich multikulturell.

Bücherhinweis

  • Colin Crouch: Postdemokratie. Suhrkamp Verlag, 149 Seiten.
  • Colin Crouch: Ist der Neoliberalismus noch zu retten? Suhrkamp Verlag, 94 Seiten.

Vor 20 Jahren war ein Lied einer britischen Band bei Fußballfans sehr populär. Darin kommt die Zeile „And we all like Vindaloo. We’re England“ vor. Vindaloo ist ein indisches Curry. Es reimt sich zwar auf „We’re gonna score one more than you“, war aber auch ein Symbol einer britischen Fußballidentität, die sich in den 1990er Jahren als multikulturell definierte.

Junge Menschen waren es auch, die beim Brexit-Referendum für die EU gestimmt haben. Sie sehen Europa als Bereicherung und nationale Eigeninteressen wie der Austritt aus der EU als Einschränkung ihrer Identität. Ich glaube, diese Haltung ist einer der Gründe, warum Rechtspopulisten keine Mehrheit hinter sich versammeln können.

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Der Brite legt seinen Fokus auf die politischen Prozesse in Europa. Zuletzt konzentrierte er sich vermehrt auf Osteuropa.

ORF.at: Sie sind mit ihrem Buch „Postdemokratie“, das 2004 auf Englisch erschienen ist (2003 auf Italienisch, Anm.), quasi über Nacht zum neuen Star der Politikwissenschaft geworden.

Das ist komisch, nicht wahr? Eigentlich bin ich Soziologe mit Fokus auf Industrialisierung. Ich habe „Postdemokratie“ verfasst, und ein Freund in Italien hat gemeint, dass er jemanden kennt, der es veröffentlichen könnte. Und das Buch wurde ein Erfolg, zuerst in Italien. Schließlich wurde es in unterschiedliche Sprachen übersetzt.

Jetzt habe ich eine neue Version geschrieben. Der Titel lautet „Die Postdemokratie nach den Krisen“. Ich diskutiere die Finanzkrise 2008, die Euro-Krise 2010 und das, was ich eine Krise nenne, den Aufstieg des Rechtspopulismus. Und ich hinterfrage meine Ausgangsthese, dass die Demokratie vor einem Zerfall steht. Es ist eine Selbstkritik.

ORF.at: Und wo hatten Sie nun recht und wo unrecht?

Crouch: Ich habe den Einfluss des Rechtspopulismus unterschätzt. Ich habe den Rechtspopulismus zwar diskutiert, aber seine Zweideutigkeit für die Demokratie nicht antizipiert. Auf der einen Ebene ist der Rechtspopulismus eine Antwort zur Postdemokratie.

Er ist etwas, das von der Bevölkerung selbst kommt, und das die Bequemlichkeit der politischen Eliten stört. Innerhalb des Rechtspopulismus gibt es aber Tendenzen, die gefährlich für die Demokratie sind.

ORF.at: Über welche Tendenzen sprechen Sie?

Crouch: Für die Rechtspopulisten gibt es nur ein Volk, die Mehrheit. Wer nicht Teil der Mehrheit ist, hat keine Rechte. Es gibt innerhalb des Rechtspopulismus auch keine Kontroverse und keine Diskussionen. Das ist es, warum Populismus von rechts oder links potenziell ein Feind der Demokratie ist.

Eine Demokratie muss bedeuten, dass wir immer neue Diskussionen haben, dass Minderheiten Rechte haben. Man muss immer erwarten, dass die Minderheit von heute die Mehrheit von morgen wird. Das demokratische Denkwesen muss das immer annehmen.

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Im Gespräch übte Crouch auch Selbstkritik: In „Postdemokratie“ habe er die Rolle des Rechtspopulismus unterschätzt

Aber wenn man sagt: Nein, wir sind das Volk, wir sind das einzige Volk, wir verstehen, was das Volk wünscht – es ist nicht wichtig, dass wir sie fragen, aber wir wissen es –, dann ist der Populismus gegen die Demokratie.

ORF.at: Und die These, dass es die Postdemokratie gibt, also eine Scheindemokratie, in der zwar Wahlen abgehalten werden, aber es nur eine PR ist, stimmt?

Crouch: Wir sind nicht in einer Postdemokratie, aber wir sind auf dem Weg dorthin. Heute stehen wir der Postdemokratie näher. Die Priorität des Finanzsektors hat viele postdemokratische Tendenzen.

ORF.at: Wie stehen Rechtspopulismus und Neoliberalismus zur Postdemokratie?

Crouch: Für den Neoliberalismus ist die Postdemokratie das vollkommene politische System. Es gibt einen Rechtsstaat, aber es handelt sich um ein leeres Gehäuse, und die Bevölkerung wehrt sich nicht. Für Neoliberale ist das hervorragend.

Für Rechtspopulisten ist es anders. Sie wollen eine aktive Bevölkerung, aber sie sind mit den Regeln des Rechtsstaats nicht zufrieden. Die rechtspopulistischen Parteien und Regierungen haben ihre Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz. Für sie sind Gerichte die Feinde des Volkes.

ORF.at: Wann erscheint Ihre „Selbstkritik“?

Crouch: Im Jänner bin ich mit dem Entwurf fertig geworden. Vielleicht erscheint es dieses oder nächstes Jahr. Ich denke, der Arbeitstitel, den ich gewählt habe, ist gut und passend. Allerdings entscheiden am Ende ja die Verlage, welcher Titel auf dem Markt ankommt. Die kennen sich besser aus als ich.