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Neuer Populismus?

Van der Bellen kontert Fukuyama

Dass sich moderne Demokratien immer stärker abschotten wollen, hat den US-Philosophen Francis Fukuyama auf den Plan gerufen: In Wien erklärte er den Aufstieg des Populismus als eine Antwort auf offene Identitätsfragen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der mit Fukuyama über dessen Thesen am Donnerstagabend diskutierte, meinte dabei auch, dass man von den Populisten lernen könne.

Sind die offene Gesellschaft und die liberale Gesellschaft durch den Aufstieg populistischer Parteien und populistischer Politik bedroht? Ja, sagt US-Philosoph Francis Fukuyama in einem neuen Buch, das er am Donnerstagabend in prominenter Runde (darunter die Philosophin Karolina Wigura und der Politologe Ivan Krastev) auf dem Erste Campus in Wien diskutierte. Wer heute den Aufstieg des Populismus verstehen wolle, egal ob dieser von rechts oder links komme, solle nicht wie so oft, vor allem ökonomische Begründungen heranziehen, so Fukuyama. Für ihn übersähen viele liberale Gesellschaften die Bedeutung von Identität, von Würde und Anerkennung, die in den Gesellschaften zurzeit nicht in ausreichendem Maß angeboten würden.

„Thymos“ ist für Fukuyama der griechische Schlüsselbegriff für den Wunsch des Menschen nach Anerkennung. Ethnische Zugehörigkeit oder Religion sollen nicht das Moment der Zugehörigkeit bestimmen, ist Fukuyama überzeugt. Aber, so der US-Philosoph: Eine Gesellschaft brauche eine identitätsstiftende Klammer und ein Gemeinschaftsgefühl, unter dem sich alle wiederfinden könnten. Der Weg nach rechts, den viele Gesellschaften gerade einschlügen, liegt für Fukuyama im Moment eines fehlenden Angebots für Anerkennung und Identitätsstiftung begründet.

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„Die Nationen müssen wieder Anerkennung und Würde der Menschen sichtbar wahrnehmen“, fordert Fukuyama in seinem Eröffnungsvortrag

Van der Bellen: Weg vom Kaninchenblick

Bundespräsident Van der Bellen erinnerte in der Diskussion zu den Thesen Fukuyamas, dass man natürlich „mit dem großen Pinsel über die Weltgeschichte“ gehen könne. Aber, so sein Einwand: Die Thesen sollten auf der Ebene der einzelnen Länder stimmen. Österreich hätte eine sehr lange Erfahrung mit einem „charismatischen Populismus“. Das sei nichts Neues für uns, so Van der Bellen. „Wir sollten uns gerade in der Europafrage vom Kaninchenblick vor der Schlange lösen“, so der Präsident.

Die Debatte zum Nachschauen

Fukuyama sieht die offene Gesellschaft durch den neuen Poplismus bedroht. Seine Thesen bleiben in der Diskusssion mit Alexander Van der Bellen, Julia de Clerck-Sachsse, Karolina Wigura und Ivan Krastev nicht unwidersprochen.

Er erinnerte dabei an seinen eigenen Wahlkampf, bei dem es vor dem überraschenden Brexit-Votum sehr schwer gewesen sei, eine Pro-EU-Agenda zu vertreten. Nach dem Brexit hätte das ganz anders ausgesehen, so Van der Bellen. Einen Austritt aus der EU würden sich die Leute nicht wünschen. Und das Wichtige dabei für Van der Bellen: In der Bevölkerung sei die Entscheidung für die EU durchaus eine Bauch- und Gefühlsentscheidung gewesen.

„Linke und Liberale müssen aufhören, sich vor jedem und allem zu fürchten“, so Van der Bellen. Man könne den Menschen den Sinn einer Nichtabschottung auch überzeugend erklären. Etwa, dass eine Fabrik, die zu 95 Prozent vom Export und von internationaler Kooperation lebt und Hunderte Mitarbeiter beschäftigt, zusperren müsse, wenn man alles dichtmache. „Europa muss emotional erklärt werden – und das ist, sorry to say, ein bisschen populistisch“, so Van der Bellen, der sich dafür aussprach, dass man von der Überzeugungskraft des Populismus lernen könne, wenn man wieder die Emotionen anspräche.

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Francis Fukuyama diskutierte seine Thesen mit Alexander Van der Bellen, der EU-Diplomatin Julia De Clerck-Sachsse, dem Politikwissenschaftler Ivan Krastev und der Philosophin Karolina Wigura. Moderation: Almut Möller.

Angst als Triebfeder der Gesellschaft

Die polnische Philsophin Wigura erinnerte in der Diskussion der Thesen Fukuyamas daran, dass nicht nur der Faktor Anerkennung, sondern auch jener der Angst in einer Gesellschaft als zentraler Faktor in den Blick genommen werden müsse. Schon Thomas Hobbes habe die Angst als eine zentrale Triebfeder hinter dem Aufbau einer Gesellschaftsordnung gesehen. Für Europa konstatiert sie zwei große Angstszenarien. Nach 1945 habe es die Angst vor der Vergangenheit gegeben.

Das Nie-wieder habe die Politik geprägt, doch diese Angst habe sich im Lauf der Jahrzehnte verflüchtigt. „Hier ist eine Lücke entstanden. Und diese Lücke ist sehr stark mit einer Angst vor der Zukunft gefüllt worden“, so Wigura, die die Zukunftsangst als momentan bestimmendes Moment in der gesellschaftlichen Debatte etwa in Großbritannien und Polen sieht. „Polen hat ein großes Thema, von der EU anerkannt zu werden“, so Wigura, und da spiele auch die Anerkennung dessen, was Polen etwa im Zweiten Weltkrieg erlebt habe, eine große Rolle.

Krastev und das „Ende der Nachahmung“

Der am Wiener IWM forschende Politologe Krastev erinnerte in seinen Statements an einen anderen Aspekt für den Aufstieg des Populismus in Mittel- und Osteuropa: „Wir leben im Zeitalter der Nachahmung. In Mittel- und Südosteuropa wollten wir das Modell der liberalen Demokratie nachahmen. Die Revolte in diesen Ländern und die Attraktivität, jetzt Populisten zu wählen, liegt genau in der Ablehnung dieser Imitation.“

Man sei immer von außen gemonitort worden, wie gut man den Prozess der Nachahmung absolviere, so Krastev und ergänzte: „In dem Moment, wo man ein Nachahmer ist, gibt es nie eine wahre Anerkennung für den eigenen Erfolg. Man sollte jemand anderer werden und war nicht mehr man selbst.“ Wenn man heute auf die politischen Akteure in diesen Ländern blicke, so Krastev, dann höre man eine Aussage: „Wir haben keine Lust mehr nachzuahmen.“

Fukuyama zur europäischen Identität

Vor Journalisten erinnerte Fukuyama am Donnerstag an die Aufgaben, vor denen Europa im Moment stünde. Das derzeit ebenfalls von polarisierenden politischen Strömungen geprägte Europa müsse sich seine eigenen Leistungen vor Augen halten, ohne zu große Projekte wie die Idee von „Vereinigten Staaten von Europa“ voranzutreiben: „Im Moment ist das angesichts der Anti-EU-Strömungen eher unrealistisch.“

Buchhinweis

Francis Fukuyama: Identität. Übersetzt von Bernd Rullkötter. Hoffmann & Campe, 240 Seiten, 22,70 Euro.

Teil des „Legitimitätsproblems“ der Union ist für Fukuyama ihr „undemokratischer Kern“: Die Macht liege im Rat und der Kommission, wogegen das demokratisch gewählte EU-Parlament das schwächste Glied im politischen Gefüge darstelle. Europa müsse aber vor allem die Entwicklung einer „Europäischen Identität“ vorantreiben. Schlüssel dafür sind für ihn vor allem die jungen Bevölkerungsteile, die heute mehr als ein Land in ihrer Berufsbiografie kennenlernten. Programme wie Erasmus hätten eine europäische Mobilität und Identität vorangetrieben. Allerdings müsse man ebenso die bildungsfernen Schichten im Auge haben, die solche Optionen nicht so leicht realisieren könnten. „Es gibt Gruppen, die profitieren von Europa, und andere, die davon nichts haben“, so Fukuyama.

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Erste-Stiftung-Chef Boris Marte erinnerte zum Auftakt einer neuen Vortragsreihe an Emmanuel Levinas und die Notwendigkeit, mit dem „Anderen“ umgehen zu können.

Fukuyama und das offene Ende der Geschichte

Fukuyama ist zurzeit gerade mit seinem neuesten Buch „Identität“ auf Lese- und Diskussionsreise durch Deutschland und Österreich. In seinem jüngsten Werk überprüft der überzeugte Hegelianer und Ideengeschichtler Fukuyama nochmals die Thesen jenes Werks, das ihn bekannt gemacht habe, „Das Ende der Geschichte“, an den laufenden weltweiten politischen Entwicklungen. Dass die liberale Demokratie das „Endziel der Geschichte“ sei, will Fuykama ganz im Sinne Hegels nie gesagt haben, weil sich auch der historisch-dialektische Prozess nicht abschließen lasse. Überdies sieht die liberale Demokratie weniger wie ein Endziel aus denn wie ein fragiler Bereich, der von verschiedenen Seiten sturmreif geschossen wird.

Fukuyama will mit seiner jüngsten Publikation verstehen und ergründen, warum das so ist und warum der Populismus gerade in jenen Schichten der Bevölkerung so gut ankommt, die möglicherweise am meisten unter ihm litten. Gegen Populismus, so Fukuyama, könne man nicht „vorgehen“ – man müsse die Beweggründe verstehen, warum die Menschen sich für diese politische Einstellung entschieden.