EZB-Chef Mario Draghi
APA/AFP/Daniel Roland
Brexit und Handelskrieg

EZB versucht, EU über Wasser zu halten

Nach den jüngsten Einschätzungen der Notenbanken der USA und der Euro-Zone, haben die Börsen weltweit mit Nervosität reagiert. Doch insbesondere für Europa steht viel mehr auf dem Spiel: Die überraschende Kehrtwende von EZB-Chef Mario Draghi zeigt, wie schwierig es angesichts von Risiken wie Brexit und dem Handelsstreit zwischen USA und China derzeit ist, die EU konjunkturell über Wasser zu halten. Fachleute fordern höhere Staatsausgaben von Deutschland, Österreich und Co.

EZB-Chef Draghi blickt deutlich pessimistischer auf die Konjunktur – die seit Monaten erwartete Zinswende überlässt er nun seinem Nachfolger bzw. seiner Nachfolgerin. Denn im Kampf gegen den Abschwung in Europa will Draghi den erst vor wenigen Monaten geschlossenen Geldhahn wieder weit öffnen. Banken werden neue billige Langfristkredite gewährt, damit die Geldhäuser bereitwilliger Darlehen an Unternehmen geben – und das bis 2023.

Damit rückt automatisch auch eine Abkehr von der Nullzinspolitik in weitere Ferne. Die überraschende Abkehr vom geplanten Pfad in Richtung erstmaliger Zinserhöhung seit 2011 zeige, wie rasch sich die Wirtschaftslage in der Euro-Zone verschlechtert hat, befand am Samstag das „Wall Street Journal“. Seit dem Höhepunkt 2017 geht das Wachstum in der Euro-Zone kontinuierlich zurück.

Draghis Sonderrolle

Hauptprofiteure der EZB-Geldspritze dürften vor allem Institute im rezessionsgeplagten Italien sein. „Die schwächeren Wirtschaftsdaten weisen auf eine beträchtliche Verlangsamung des wirtschaftlichen Aufschwungs hin“, sagte EZB-Präsident Draghi. Die Euro-Wächter wollen ihre rekordtiefen Leitzinsen jetzt noch bis mindestens Jahresende nicht erhöhen.

Mit den jetzigen Beschlüssen wird Draghi wohl der bisher erste EZB-Präsident werden, der in seiner Amtszeit kein einziges Mal die Zinsen erhöht hat. Der Italiener scheidet Ende Oktober aus dem Amt. Ihren Leitzins beließ die EZB auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Dort liegt er bereits seit März 2016. Draghi zufolge fielen die Entscheidungen im EZB-Rat einstimmig. Damit dürften sie auch von der Deutschen Bundesbank mitgetragen worden sein, die in der Vergangenheit manchen Schritten wie den Anleihekäufen sehr kritisch gegenüber gestanden war.

Währungshüterin Lael Brainard
AP/Cliff Owen
Auch die US-Konjunktur sah schon besser aus. Fed-Notenbankerin Lael Brainard warnt vor einer weiteren Zinsanhebung

Viele Risiken

Die noch unklaren Risiken durch den Austritt Großbritanniens und der Handelsstreit der EU mit den USA, insbesondere aber jener zwischen den USA und China, lasten auf der europäischen Wirtschaft. China ist längst ein entscheidender Exportmarkt für Euro-Zone-Länder, US-Zölle auf deutsche Autos könnten Europas Wirtschaftsmotor Deutschland zudem schwer treffen. Dazu kommen die Gelbwesten-Proteste in Frankreich und ein steigender Schuldenberg in Italien durch die populistische Koalition in Rom. Wie zu Zeiten der Griechenland-Krise müssen Investoren für deutsche Staatsanleihen noch Zinsen draufzahlen, anstatt welche zu bekommen.

Dazu kamen zuletzt überraschend schwache Zahlen vom US-Arbeitsmarkt. Manche sprachen angesichts von lediglich 20.000 neuen Stellen gar von einer „Vollbremsung“. Die Fed-Direktorin Lael Brainard plädierte jedenfalls für ein „vorsichtiges Navigieren bei den Zinsen“. Sie sieht die Gefahr eines Konjunktureinbruchs und will daher vorerst zumindest die Zinsen nicht weiter anheben.

Handeln der Regierungen gefragt

Doch die Möglichkeiten der EZB sind mittlerweile begrenzt: Die Schlüsselzinssätze sind auf null oder sogar negativ, und sie hat bereits einen Großteil der Staatsanleihen der Euro-Zone-Länder aufgekauft. Mehrere Ökonomen sehen vielmehr die Verantwortung dafür, ein weiteres Abrutschen der Konjunktur zu verhindern, bei den Regierungen der Euro-Zone-Mitglieder, so das „Wall Street Journal“.

„Deutschland, die Niederlande, Österreich und einige andere kleinere Länder könnten ihre Investitionsausgaben über eine Dreijahresperiode um einen halben Prozentpunkt gemessen am BIP erhöhen“, zitierte das Finanzblatt die OECD. In diesem Ausmaß würden auch keine Anleger verschreckt.

„Essenzielle Dinge“

Seit Jahren appelliert Draghi immer wieder an die nationalen Regierungen, diese müssten ihre Hausaufgaben erfüllen, um Europa aus der Krise zu führen. Der Notenbankchef betonte stets, dass das die EZB alleine nicht leisten könne. Die Abneigung der nationalen Regierungen, fiskalpolitisch zu handeln, erklärt laut Draghi, warum die EZB seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 so viel Arbeit übernahm.

Eine Vervollständigung der Währungsunion, der Bankenunion und der Kapitalmarktunion seien „essenzielle Dinge“ für Europas Wirtschaft, so Draghi. Er räumte aber auch ein: „Es ist relativ einfach, einen Ratschlag zur richtigen Politik zu geben. Aber es ist viel schwieriger, diese in einer demokratischen Gesellschaft umzusetzen.“