Uiguren demonstrieren mit Bildern ihrer vermissten Verwandten
Reuters/Umit Bektas
Weltweiter Hilferuf

„Kultureller Genozid“ an Uiguren befürchtet

Im Nordwesten Chinas werden laut Schätzungen der UNO rund eine Million Uigurinnen und Uiguren in politischen Umerziehungslagern festgehalten. Der deutsche Sozialwissenschaftler Adrian Zenz spricht von einem „kulturellen Genozid“ an der muslimischen Minderheit. Im Exil lebende Uiguren versuchen die internationale Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam zu machen.

Man könne mit keinem Uiguren reden, der nicht ein oder mehrere Familienmitglieder, Bekannte oder Freunde im Lager hat, sagt der deutsche Sozialwissenschaftler Adrian Zenz, der seit Jahren zu Minderheiten in China forscht. Offizielle Daten oder Statistiken gibt es aber nicht.

Der Minderheitenexperte spricht von einem „kulturellen Genozid“, der sich darin äußere, dass die Kultur, die Sprache und die Religion der Uiguren in den Lagern ausgemerzt werde. Erst nach massivem internationalem Druck und einer Anhörung vor der UNO räumte Chinas Führung die Existenz der Lager überhaupt ein und argumentierte sie als Maßnahme im Kampf gegen Terror und Extremismus.

Volksgruppe unter Generalverdacht

Tatsächlich kam es in der Provinz Xinjiang in der Vergangenheit immer wieder zu Unruhen und Anschlägen. Die chinesische Regierung macht die Uiguren dafür verantwortlich und stellt eine ganze Volksgruppe unter Generalverdacht. Fast die Hälfte der 22 Millionen Einwohner Xinjiangs sind Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren, die sich durch eigene Tradition, Sprache und Kultur auszeichnet.

„Umerziehungslager“ für Uiguren

Die internationale Kritik an den zwangsinternierten muslimischen Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang will nicht abebben. Die Behörden sehen sich deshalb in die Defensive gedrängt.

Chinas Führung deklariert die Lager als Ausbildungsstätten, um radikalisierte Muslime vom Terrorismus fernzuhalten. „Diese Einrichtungen ermöglichen es jedem, mehr über die schlimmen Handlungen zu lernen, die gewalttätige Terroristen in Xinjiang verübt haben“, sagte der stellvertretende Propagandachef der Kommunistischen Partei von Xinjiang, Shi Lei, in einem seltenen Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters im Jänner 2019.

Budgetdaten widersprechen offiziellen Angaben

Dem widerspricht Zenz, der zahlreiche offizielle Projekt- und Stellenausschreibungen der Region analysiert hat. Die von ihm gesammelten Daten und Dokumente lassen vermuten, dass es sich nicht um Ausbildungslager handelt. Denn wozu brauchte ein Ausbildungslager Wachtürme, Stacheldrahtzäune und Hunderte Sicherheitskameras sowie ein Polizeiaufgebot statt Lehrpersonal? Seine Analyse von Budgetdaten legt das ebenfalls nahe. Während die Ausgaben für Berufsbildung in Xinjiang stagnierten und in muslimischen Regionen teilweise sogar zurückgingen, hätten sich die Ausgaben für innere Sicherheit multipliziert, beschreibt Zenz.

Zaun um ein Erziehungszentrum in Dabancheng (China)
Reuters/Thomas Peter
Journalisten schossen Bilder von einem „Ausbildungslager“ und wurden dafür kurz in Haft genommen

Im Jänner durften erstmals Journalisten ein Lager in Xinjiang besuchen, allerdings nur im Rahmen einer staatlich geführten Tour. Während ehemalige Lagerinsassen von massivem Druck und sogar Folter berichten, bekamen die Journalisten bei ihrem Besuch lediglich Einblick in unauffällige Schulklassen. Gerüchte über Folter, Todesfälle und Suizid konnten demnach nicht überprüft werden.

Lebenszeichen von Angehörigen gefordert

Der häufigste Grund, in einem der Umerziehungslager zu landen, sei der Kontakt zu Menschen im Ausland oder die Religionsausübung, erklärt Zenz, der an der European School of Culture and Theology im deutschen Baden-Württemberg lehrt. Manche Uiguren würden eingesperrt, weil sie sich einen Bart wachsen lassen, manche Uigurinnen, weil sie ein Kopftuch tragen, andere schlicht, weil sie beispielsweise über Skype mit Verwandten im Ausland kommuniziert haben. Da die gesamte elektronische Kommunikation überwacht wird, ist es auch für Angehörige im Ausland extrem schwierig, an Informationen über ihre Angehörigen zu kommen.

Kein Kontakt zu Verwandten

In Österreich leben rund 200 Uiguren, darunter auch Mechbube A., die vor 17 Jahren zum Studieren hierher gezogen ist. Sie wohnt mittlerweile mit ihrem Mann und den zwei Kindern in Linz und hat seit Monaten jeden Kontakt zu ihren Verwandten in Xinjiang verloren. Insgesamt seien 15 Angehörige verschwunden, erzählt sie und fragt: „Wo sind diese Menschen? Warum dürfen wir nicht mit ihnen sprechen? Ihre Telefonnummern existieren einfach nicht mehr.“ Aus Protest hat sie sich der Internetkampagne #metoouyghur angeschlossen. Unter dem Hashtag posten aktuell Tausende Uiguren weltweit Fotos und Videos von vermissten Angehörigen und fordern von der chinesischen Regierung ihre Freilassung oder zumindest ein Lebenszeichen.

Uiguren demonstrieren mit Bildern ihrer vermissten Verwandten
AP/Lefteris Pitarakis
Große Demonstrationen von Uiguren gibt es kaum – hier eine in Istanbul im Vorjahr

Uiguren fehlt ein Sprachrohr

Die Kampagne wurde vom in Finnland lebenden Uiguren Harri Halmurat ins Leben gerufen. Auch seine Eltern seien in einem „Ausbildungslager“ gewesen und stünden jetzt unter Hausarrest, erzählt Halmurat. „Meine Eltern sind pensionierte Beamte. Sie haben eine hohe Bildung und sind in Pension. Wozu brauchen sie eine Ausbildung?“, hinterfragt er die offizielle Variante der chinesischen Führung und will mit der Kampagne vor allem Aufmerksamkeit für die Probleme der Uiguren schaffen.

Rund eine Million Menschen in Umerziehungslagern

In China sind etwa eine Million Menschen in politischen Umerziehungslagern eingesperrt.

Im Aufmerksamkeitsdefizit sieht auch Wissenschaftler Zenz ein großes Problem. Niemand kenne die Uiguren. Sie hätten kein Sprachrohr und keine religiöse Leitfigur wie den Dalai Lama, die im Westen bekannt ist. „Dieses zentralasiatische Volk lebt sogar in China so abgeschieden, dass lange Zeit nichts durchgesickert ist“, sagt Zenz.

Für ihn verdeutlicht die #metoouyghur-Kampagne, welch „menschliche Katastrophe“ hinter den Umerziehungslagern stecke. Ob das die chinesische Regierung zur Umkehr bewegt, sei jedoch eine andere Frage.

Menschenrechtsorganisationen fordern Aufklärung

Human Rights Watch bezeichnet das Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die Uiguren als das „weltweit größte vernachlässigte Problem“. Amnesty International und mehr als ein Dutzend andere Menschenrechtsorganisationen fordern eine Untersuchungsmission unter Mandat des UNO-Menschenrechtsrates, um endlich die „Wahrheit in den Lagern“ aufzudecken.

Auch Zenz glaubt, dass Xinjiang nur der Anfang sei. Er befürchtet, dass dort erprobte Maßnahmen der Überwachung und der Umerziehung auch in anderen Teilen Chinas eingesetzt werden könnten, vor allem da, wo „die Religion sich hartnäckig hält oder am Wachsen ist“.