Eindruck aus „Brodsky/Baryshnikov“
Janis Deinats

Baryschnikow verzaubert Wien

Wenn Gedichte gespieltes Drama werden, liegt Gefahr in der Luft. Auch das Gastspiel des einstigen Ballettstars Michail Baryschnikow mit den Gedichten seines Freundes Joseph Brodsky in Wien war nicht ohne Risiko. Doch die Premiere am Freitag, für die Regisseur Alvis Hermanis ein verfallener Jahrhundertwendepavillon im Bühnendunkel genügte, wurde zur fragilen Sternstunde.

Es war so ganz anders als sonst in der festwochenerprobten Halle G im Wiener MuseumsQuartier, als sich „Sex and the City“-Fans und eine in breiter Front angetretene russische Community beim Run auf Baryschnikow die Klinke in die Hand gaben. Das seit vier Jahren um die Welt tourende Abendprogramm mit dem lapidaren Titel „Brodksy/Baryshnikov“ versprach einen Grenzgang zwischen Theater, Performance und Lesung. Allein die Wirkung der Texte sollte die Regie führen.

Für den ebenso wie Baryschnikow in Riga geborenen Hermanis war diese Ausgangslage so etwas wie eine Steilvorlage: Theater ist bei ihm, wie er sagt, „all about the atmosphere“ – und so stellt er den Gedichtsdeklamationen Baryschnikows ein typisches Hermanis-Setting zur Seite: Im Finsteren steht ein verfallener Pavillon, so als hätte sich ein Teil der Requisite eines Tschechow-Stücks selbstständig gemacht. Vor dem Pavillon zwei Bänke, auf einem eine alte Bandmaschine. Sind wir vielleicht doch mehr bei Beckett und „Krapp’s last tape“?

Eindruck aus „Brodsky/Baryshnikov“
Janis Deinats
„Das Augenlid schnappt nach Raum wie Kiemen nach Luft“ – Baryschnikow liest Brodsky

„Die Muttersprache zieht meine Jochbeine auseinander“

Baryschnikow tritt durch die Hintertür des Pavillons in den Werkkosmos des entwurzelten Nobelpreisträgers Brodsky, der der Welt eine große, an der Grenze des Aushaltbaren strandende Lyrik in zwei Sprachen hinterlassen hat. „Die Muttersprache zieht meine Jochbeine auseinander“, heißt es an einer Stelle bei Brodsky – und konsequent wird der Abend mit der im Hintergrund schwebenden Sehnsuchtsmelodie nur auf Russisch gehalten. Auf dem Dach des Pavillons in einem dünnen Streifen werden Übersetzungen der Arbeiten Brodskys aufgeblendet – oft genug darf man sich aber auch von der Schönheit und Tiefe des Russischen wegtragen lassen.

Baryschnikow tanzt Brodsky
ORF
Wie ein gestrandetes Relikt eines Tschechow-Stücks. Hermanis macht den Pavillon zur Echokammer des Hirns.

Brodsky ist der große Poet der Entwurzelung. Er ist der Suchende, der Dichter, der die Lyrik als Erkenntnisform zelebriert. Lyrik, das ist die Verdichtung der Wahrnehmung, das Nebeneinanderstellen des Widersprüchlichsten – des Aufreißens und Immer-wieder-Hinsehens. Der Trost bei ihm ist nicht die Schönheit der Sätze – es ist die Erkenntniskraft fern jeder Rationalität, die zählt. „Vergangenheit passt nicht restlos ins Gedächtnis, sie braucht Zukunft“, heißt es an diesem Abend an anderer Stelle mit scheinbarer Überzeugungskraft. Das Subjekt hat bei Brodsky keinen sicheren Ort, denn „die Welt ist ziellos/ und hätte sie ein Ziel/ dann wären es nicht wir“.

Hinweis

Die Abende mit Baryschnikow sind noch am Samstag und Sonntag in der Halle G im MuseumsQuartier zu sehen.

Ein 20-jähriges Gespräch

Baryschnikow setzt sich vor den Pavillon und liest, spricht, erinnert die Sätze Brodskys, den er kurz nach seiner eigenen Ankunft in New York Ende der 1970er Jahre kennengelernt hatte. Das Gespräch des ersten Abendessens, so erinnert der ehemalige Balanchine-Schüler Baryschnikow, habe gut 20 Jahre, bis zum Tod Brodskys gedauert.

Immer wieder wird Baryschnikow in den Pavillon treten, dort beinahe kreatürlich den Gedichten begegnen, die in diesen Momenten eine Stimme aus dem Off spricht. Der Pavillon, er ist Hirn und Hinterkopf, er ist eine Form von begehbarem Gedächtnis, in dem es aber kein Zur-Ruhe-Kommen geben kann.

Baryschnikow zieht sich ein Stück weit die Lebensgeschichte des lyrischen Ichs von Brodsky an – und jeder darf sich natürlich an diesem Abend fragen, ob hier nicht ein weiterer Heimatloser einen Gewährsmann für seine innere Unruhe gefunden hat. Brodsky hat keinen Trost parat – aber er ist ein Aufdecker, der zum Aus- und Durchhalten des Entdeckten einlädt. 90 Minuten können für diesen Ansatz durchaus lang sein – und will man allen Gedichten folgen, so ist man entsprechend gefordert. Doch der Abend ist auch eine Einladung, sich in einer fremden Sprache weit weg tragen zu lassen – bis hinaus an die Grenzen des Verstehbaren. Sehnsucht, nicht Vernunft ist der Kern der russischen Seele. Auch im Exil.