Westminsterpalast
Getty Images/Cui Yi
Brexit-Endspurt

Szenarien für die Chaostage

Eineinhalb Wochen vor dem geplanten Brexit scheint das Chaos mittlerweile größer als je zuvor. Verwirrung herrschte zuletzt etwa darüber, ob es überhaupt ein drittes Votum zum ausgehandelten Brexit-Deal im britischen Unterhaus geben kann. Von einem „No Deal“-Szenario bis zu Neuwahlen ist derzeit alles möglich.

Nachdem am Montag mehrere britische Medien spekuliert hatten, ob diese Woche ein drittes Votum stattfinden wird, machte Parlamentspräsident John Bercow der Regierung einen Strich durch die Rechnung: Eine dritte Abstimmung soll es nicht geben – zumindest nicht über ein und denselben Vertragstext. Bercow verwies auf eine Regel aus dem frühen 17. Jahrhundert, wonach dieselbe Vorlage nicht beliebig oft zur Abstimmung gestellt werden kann. Die Regierung zeigte sich von dem Vorstoß überrascht – der Tory-Abgeordnete Robert Buckland sprach gar von einer „Verfassungskrise“. Mays Kabinett sucht nun nach einem Ausweg aus dem Dilemma.

Eine weitere entscheidende Abstimmung wollte Premierministerin Theresa May diese Woche aber ohnehin nur abhalten lassen, wenn es Aussicht auf Erfolg gibt. Das verkündete ein Regierungssprecher am Montagnachmittag. Brüssel bereitet sich indes auf den EU-Gipfel Ende der Woche vor, auf dem der weitere Brexit-Fahrplan entschieden werden soll. Daraus ergeben sich mehrere Szenarien.

Längerer Aufschub macht alles möglich

Einem Sprecher zufolge wird May in Kürze in einem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk um einen Brexit-Aufschub bitten. Die britische Tageszeitung „Guardian“ vermutete zuvor in einem Artikel, dass May Brüssel auf dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag um einen langen Aufschub des Austrittsdatums bitten muss. Wird der EU-Austritt über Juli hinweg verlängert, könnten die Karten in London völlig neu gemischt werden: Möglich wären Neuwahlen sowie die Abhaltung eines zweiten Referendums – doch auch ein „Hard Brexit“ zu einem späteren Zeitpunkt ist damit nicht ausgeschlossen.

John Bercow
AP/Alastair Grant
Bercow wird vorgeworfen, mit der Entscheidung eine eigene Agenda – und zwar mehr Kontrolle für das Parlament – zu verfolgen

Dem Aufschub müssten allerdings alle 27-EU-Mitgliedsländer zustimmen. Und diese verlangen von London einen triftigen Grund, warum so ein Aufschub benötigt wird, und wollen vor allem wissen, welchen Zweck die Regierung verfolgt. London könnte die EU laut Brüsseler Diplomaten auch nach dem EU-Gipfel um eine Verschiebung des Austritts ersuchen – quasi bis zum letzten Moment. Die EU-Kommission drängte die britische Premierministerin am Dienstag aber auch zu „rascher“ Information über die nächsten Schritte beim Brexit.

In diesem Fall müsste sich Großbritannien zudem an der EU-Wahl Ende Mai beteiligen. Das würde eine Reihe neuer Fragen aufwerfen, weswegen sich schon zahlreiche EU-Politiker gegen diese Variante ausgesprochen haben. Auch in Großbritannien ist eine Beteiligung an der Wahl kaum vorstellbar – vor allem, wenn das Land am Austritt festhalten sollte.

Primosch über das Europaministertreffen

Die Europaminister wollen, dass sich London in der Brexit-Frage bewegt. Aber ist das noch möglich? Cornelia Primosch berichtet.

„Hard Brexit“ steht weiter im Raum

Würde sich die EU gegen eine längerfristige Verschiebung des Austritts aussprechen, so wird ein „No Deal“-Brexit wahrscheinlich. Sowohl die Mehrheit der Abgeordneten im britischen Parlament als auch die EU sind gegen dieses Szenario wegen des befürchteten Chaos für Wirtschaft und Menschen. Beziehungen aus 45 Jahren EU-Mitgliedschaft würden schlagartig gekappt. Sollte es so weit kommen, könnten beide Seiten lediglich Notvereinbarungen schließen. Großbritannien wäre dann am 29. März um 24.00 Uhr MEZ automatisch kein EU-Mitglied mehr.

Die britische Premierministerin Theresa May
AP/Britisches Parlament
May war von der Entscheidung des Parlamentssprechers überrascht

Ja zu Deal und kurzer Aufschub bis Ende Juni

Eigentlich hatte May darauf gehofft, bei einem dritten Votum nun doch eine Mehrheit für ihr Austrittsabkommen mit der EU zu bekommen. Geplant war ein drittes Votum für diese Woche – ganz verabschiedet von der Idee hat man sich trotz des Statements des Parlamentssprechers trotzdem nicht. So gaben mehrere Minister – darunter Brexit-Minister Stephen Barclay – bereits an, nun nach einer Umgehung der Entscheidung Bercows zu suchen. Vor nächster Woche würde das Votum aber nicht stattfinden, hieß es.

Um ihren Deal doch noch durch das Parlament zu bringen, braucht May die Unterstützung von Brexit-Hardlinern sowie Abgeordneten der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP). Die DUP unterstützt Mays Minderheitsregierung mit zehn Abgeordneten. Laut „Guardian“ könnte sich May im Gegenzug zur Unterstützung für ihren Deal dazu gezwungen sehen, einen Zeitplan für ihren Rücktritt vorzulegen. Geht der Vertrag also durch, so würde May von der EU einen kurzen Aufschub bis Ende Juni beantragen. Den Aufschub braucht die Regierung, um ein Brexit-Gesetz zu verabschieden, das den Deal wirksam macht.

Rücknahme der Austrittserklärung

Für London besteht bis zum Austrittsdatum auch die Möglichkeit, den Brexit-Antrag ohne Zustimmung der EU einseitig zurückzunehmen. Das bestätigte der Europäische Gerichtshof im Dezember. Das gilt jedoch als unwahrscheinlich. Nötig wäre wohl ein zweites Referendum, um eine Kehrtwende zu legitimieren. May ist strikt dagegen und warnt vor einem Vertrauensverlust in die Demokratie, nachdem die Briten 2016 mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt hatten.