EU-Fahnen
Reuters/Yves Herman
„Kritischster Punkt“

EU-Gipfel berät über Brexit-Verschiebung

Gut eine Woche vor dem ursprünglich geplanten Termin für den Brexit beraten die EU-Staaten am Donnerstag und Freitag auf einem Gipfel in Brüssel über eine mögliche Verschiebung des britischen EU-Austritts. Doch nicht alle scheinen auf einer Linie zu sein.

Eigentliche hätte sich der EU-Frühjahrsgipfel ganz anderen Themen widmen sollen, etwa dem Verhältnis der Europäischen Union zu China und dem Klimaschutz. Doch nun steht einmal mehr der Brexit im Mittelpunkt – beziehungsweise seine mögliche Verschiebung.

Die Staats- und Regierungschefs müssen darüber diskutieren, ob ein von der britischen Premierministerin Theresa May vorgeschlagener Aufschub bis Ende Juni möglich ist oder kürzer ausfallen sollte. Das brächte vor allem aufgrund der zuvor stattfindenden EU-Wahl rechtliche und politische Schwierigkeiten mit sich.

Tusk stellt Bedingung an May

EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte am Mittwoch gesagt, die EU sei zu einer „kurzen Verschiebung“ unter der Bedingung bereit, dass das Londoner Unterhaus das vereinbarte Austrittsabkommen annehme. Die von May vorgeschlagene Verlängerung der Austrittsfrist bis 30. Juni habe etwas für sich, fügte er hinzu.

Auch wenn ein Erfolg beim Brexit scheitern sollte und illusorisch sei und eine gewisse Müdigkeit eintrete, „werden wir nicht aufgeben, eine positive Lösung bis zum allerletzten Moment zu suchen“. Die EU habe mit Geduld agiert und reagiert, mit zahlreichen Gesprächen. Er sei zuversichtlich, dass auch jetzt der gute Wille und die Geduld nicht fehlten, an diesem „kritischsten Punkt in dem Prozess“. Einen Sondergipfel für kommende Woche schloss Tusk jedoch aus. Es gebe die Möglichkeit, in einem schriftlichen Umlaufverfahren eine Verlängerung zu regeln.

Merkel: Verschiebung von britischem Votum abhängig

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verknüpfte am Donnerstag ein Ja der EU-Staaten zu der von Großbritannien beantragten Brexit-Verschiebung auf Ende Juni mit einer vorherigen Zustimmung des britischen Parlaments zu dem Austrittsabkommen mit der EU. „Diesem Wunsch können wir im Grundsatz entsprechen, wenn wir nächste Woche ein positives Votum zu den Austrittsdokumenten vom britischen Parlament bekommen werden“, sagte Merkel am Donnerstag in einer Regierungserklärung im deutschen Bundestag.

„Über eine kurze Verlängerung kann man dann sicher positiv reden“, sagte Merkel weiter. Wenn es allerdings zu keinem positiven Votum des britischen Parlaments kommt, werde es möglicherweise zu einem weiteren EU-Spitzentreffen kommen müssen. „Sosehr wir auf einen geordneten Austritt hinarbeiten, so bereiten wir uns auch darauf vor, dass es einen ungeregelten Austritt geben kann“, so Merkel weiter.
Als zentrales Problem für eine Übereinkunft nannte Merkel erneut die Frage der Grenzregeln zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und der Republik Irland.

Hunt glaubt an EU-Krisensitzung

Der britische Außenminister Jeremy Hunt hält indes eine EU-Krisensitzung kommende Woche für möglich. Dabei könnten Großbritannien „belastende Auflagen“ wie ein neues Referendum gemacht werden. Das würde jedoch kaum Zustimmung im Unterhaus finden. Ob dort Mays bereits zweimal gescheiterter Brexit-Vertrag nächste Woche noch einmal zur Abstimmung gestellt wird, sei noch unklar, so Hunt weiter.

Dokument: EU sieht „ernsthafte“ Risiken bei Aufschub

Für Aufregung hatte zuvor ein internes Dokument der EU-Kommission gesorgt. Darin ist zu lesen, dass es „ernsthafte rechtliche und politische Risiken“ für die EU gebe, wenn die EU einer Verschiebung des Brexit-Datums bis Ende Juni zustimmt. Aus Sicht der Kommission sind dem internen Papier zufolge nur zwei Optionen für den Aufschub des Brexits sinnvoll: eine kurze, „technische Verlängerung“ bis 23. Mai ohne Teilnahme an der Europawahl; oder eine „lange Verlängerung“ bis mindestens Ende 2019 mit der Option einer Verkürzung, falls vorher eine Lösung gefunden wird.

In jedem Fall solle es nur eine einmalige Verlängerung geben, heißt es weiter. Schlimmstenfalls könnte die Konstituierung des neuen Parlaments rechtswidrig werden und nach der Wahl die Bestimmung der neuen EU-Kommission und des EU-Haushaltsrahmens gefährden. Zudem wäre jede Entscheidung anfechtbar.

Ähnliches sagte auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Ihm zufolge muss Großbritannien bei einer Brexit-Verschiebung auf die Zeit nach der EU-Wahl an der Abstimmung teilnehmen. Juncker habe May darauf hingewiesen, dass das Vereinigte Königreich bei einer Verlängerung der EU-Mitgliedschaft über den 23. Mai hinaus an der Wahl vom 23. bis zum 26. Mai teilnehmen müsse, sagte eine Kommissionssprecherin am Mittwoch.

Frankreich: „Ratifiziert das Abkommen oder tretet aus“

Frankreichs Außenminister Jean-Yves le Drian erklärte, ohne eine Garantie von May, dass sie ihr Abkommen doch noch durchs Parlament bringen werde, werde der Gipfel einen Aufschub ablehnen. „Unsere Botschaft ist eindeutig: ratifiziert das Abkommen oder tretet ohne Abkommen aus“, sagte er vor Abgeordneten. „Wir wüssten schon gerne, wo das hinführt“, sagte indes der deutsche Außenminister Heiko Maas. Eine Verschiebung des Austrittsdatums sei noch keine Lösung an sich, sagte auch der dänische Ministerpräsident Lars Lokke Rasmussen.

Die britische Premierministerin Theresa May hält eine Rede im Unterhaus
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In einer turbulenten Unterhaus-Sitzung sagte May, sie sei nicht bereit, den Austritt über den 30. Juni hinaus zu verschieben

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte bereits an, dass er für einen kurzen Aufschub stimmen werde. Das sagte er nach der wöchentlichen Kabinettssitzung in Wien. Auf die Dauer der Verlängerung angesprochen antwortete Kurz, er rechne nicht damit, dass Großbritannien an der Wahl zum Europaparlament Ende Mai teilnehmen werde. Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven hatte sich bereits zuvor zu den Aufschubspekulationen geäußert: Er wolle sowohl einem kurzen als auch einem langen Aufschub zustimmen.

„Wir können Theresa May positiv signalisieren, dass wir für eine Verschiebung sind“, sagte Kurz am Mittwoch im parlamentarischen EU-Hauptausschuss. Die Mehrheitsmeinung in der EU sei, den Brexit nach hinten zu verschieben, um einen ungeordneten Austritt zu vermeiden. Gelöst seien die offenen Streitfragen allerdings noch nicht, so Kurz.

May gibt Abgeordneten die Schuld

Am Mittwochabend gab May die Schuld für die sich anbahnende Verzögerung dem Parlament: „Die Abgeordneten waren unfähig, sich auf einen Weg für die Umsetzung des Austritts des Vereinigten Königreichs zu einigen“, sagte sie.

Neun Tage vor dem geplanten Austrittstermin reichte May bei der EU den erwarteten Antrag auf den Brexit-Aufschub ein. In einer turbulenten Unterhaus-Sitzung sagte die Premierministerin, sie sei nicht bereit, den Austritt über den 30. Juni hinaus zu verschieben. Die Regierung plane, nach dem EU-Gipfel einen dritten Anlauf zu unternehmen, für ihren Brexit-Vertrag im Unterhaus eine Mehrheit zu bekommen. Sollte diese zustande kommen, werde die Verschiebung dem Unterhaus Zeit verschaffen, die Ausführungsgesetze zu beraten.

May ist mit ihrem Brexit-Vertrag schon zweimal im Unterhaus gescheitert, und eine Mehrheit ist weiter nicht in Sicht. Angesichts dessen hatte das Parlament vergangene Woche die Regierung aufgefordert, einen Aufschub zu beantragen, um einen ungeregelten Brexit mit unabsehbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen zu vermeiden. Die britische Regierung will am Montag im Unterhaus ihre Pläne für einen EU-Austritt debattieren. Das kündigte Brexit-Minister Stephen Barclay an.