Karl-Markus-Gauß-Band auf einem Tisch mit Lampe
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Karl-Markus Gauß

Die Weltmeisterschaft der Abschweifung

Wie viel Abgründigkeit lauert im unvermessenen Gelände des Privaten? Randlagen-Entdecker Karl-Markus Gauß entführt in seinem neuen Buch in seine allernächste Umgebung: Er lädt zur Abenteuerreise durch sein Arbeitszimmer und entdeckt hinter den kleinsten Gegenständen die absurdesten Geschichten. Wie Montaigne weiß er: Nur wer abschweift, kommt zum Geistesblitz. Und im beflissenen Abschweifen ist Gauß ohnedies Weltmeister. Weswegen sich schon mal eine Duschhaube in den großen Verlauf der Geschichten verirren darf.

Wer meint, die Gegenwart würde zwischen WhatsApp-Nachrichten und Statusmeldungen auf Facebook eine nie da gewesene Kultur der Ich-Zentriertheit erleben, dem könnte der Autor und Essayist Karl-Markus Gauß wohl entgegnen, dass es Zeiten gegeben habe, in denen die Ich-Zentriertheit mindestens so groß gewesen sei – in denen es aber auch eine weitere Spanne der Geduld gegeben habe als in unserer Gegenwart. Gauß findet seine Ich-Maschinen im Schrifttum der Empfindsamkeit, in der Kultur des späten 18. Jahrhunderts, als nicht nur auf Briefpapier geweint, sondern unter der Ordnungskategorie des eigenen Selbst alles schriftlich durchmessen und festgehalten wurde, wenn er nun in Buchform in einen Dialog mit seiner Wohnung tritt.

Tagebücher, Briefe, Autobiografien und Reiseberichte sind Zeugnisse dieses Ich-Kults, und ein Autor hat es Gauß für sein jüngstes Essay- und Abschweifungsprojekt am allermeisten angetan: Es war der Aristokrat Xavier de Maistre, der ab der Zeit des Ancien Regime in Frankreich im Dienst verschiedener Politsysteme zugange war. Einen 42-tätigen Hausarrest nutzte de Maistre im Jahr 1795 jedenfalls zur Abfassung eines Berichts, der den Titel „Voyage autour de ma chambre“ trägt. Diesem knapp hundertseitigen Büchlein in scheinbarer Tagebuchform sollte eine durchaus beachtliche Rezeptionsgeschichte zuteilwerden, dockte es sich doch, wenn auch in ironischer Form, an den großen Trend zum Reisebericht über ferne Länder an.

De Maistre, dieser Restaurator der alten politischen Ordnung sei mit seiner „Prosa der Herzensergießung verblüffend nahe“ an die Autoren der Empfindsamkeit gekommen. Und, so Gauß in der ihm eigenen Trockenheit: „Auch Reaktionäre können gute Bücher schreiben, die einen weil, die anderen obwohl sie Reaktionäre sind.“

Karl Markus Gauß – Ein Europäer in Salzburg

Eine Dokumentation des ORF hat schon vor einigen Jahren die Arbeitsweise und auch die Rückzugsräume des Autors Karl-Markus Gauß in Salzburg erkundet.

Vertrautes verbürgt große Geschichten

Dass das Eigene das Vertraute und zugleich Fremde sein kann, fasziniert jedenfalls Gauß derart, dass er eine Geschichte seines Salzburger Arbeitszimmers verfasste, die nicht nur eine Bestandsaufnahme versammelter Gegenstände, von deren Geschichte und Funktion im Arbeitsleben eines Schriftstellers ist. Es ist eine Erkundungsreise zu den Geschichten hinter den Gegenständen – und zugleich ist es schließlich ein großes Werk der Abschweifung, in dem ein Wort Auslöser und Antriebsfeder für eine ganz andere Geschichte sein kann.

Veranstaltungshinweis

Gauß wird sein Buch am Samstag (30. März) bei den Rauriser Literaturtagen vorstellen.

Etwa wenn Gauß über den Brieföffner in seinem Raum nachdenkt und von dieser Werbegabe zu einer Geschichte des Eternitbaustoffes abbiegt: „Auf der einen Seite (des Brieföffnergriffs, Anm.) steht: ‚Eternit-Schiefer – Patent Haschek‘, auf der anderen ‚Beste Bedachung – Reparaturlos-Sturmsicher-Vornehm‘. Es handelte sich also um das Geschenk oder eine Werbegabe einer Firma Hatschek, die Dächer aus Eternitschiefer herstellte, und dies zu einer Zeit, da dieser Baustoff noch mit dem Attribut vornehm verbunden war.“

Vom Topos zur Ausschweifung

Die Tradition der zahllosen Abschweifungen, das diesen Buch auf seinen 220 Seiten versammelt, ist freilich eine, die über das Schrifttum des 18. Jahrhunderts hinein in die frühe Neuzeit reicht. In eine Zeit also, in der die alten Wissens- und Ordnungstraditionen noch Bestand hatten, und die Topoi eben nicht nur Gemeinplätze waren, sondern tatsächlich die Orte verbürgten, an denen Wissen kumuliert zu finden war. Montaigne hatte so seine Sicht auf das Wissen der Welt geordnet. Und als er sich über Jahre in seine Bibliothek zurückzog, um von Topos zu Topos und Wissenssammlung zu Wissenssammlung zu ziehen, da sollte er entdecken, dass sein eigenes Erfahrungswissen wohl stichhaltig sei wie alle Schriften seit der Antike und dem Mittelalter vor ihm.

Seite aus den Essais von Montaigne
Public Domain
Originalseite aus den „Essais“ von Montaigne. Händisch fügte der Autor vor allem für die dritte Version seiner Schriften zahllose persönliche Anmerkungen zu seinem Denk-Kompendium des späten 16. Jahrhunderts hinzu.

Erfahrungswissen und Anschauung in eigenen Räumen und mit neuen Ordnungsmustern, das fasziniert auch Gauß: „Werde ich gefragt, was Luxus bedeute, fallen mir nicht viele Dinge ein, aber doch zwei fundamentale, die mich weder physikalisch noch philosophisch, nur persönlich beschäftigen: Raum und Zeit.“

In der Ordnung des Assoziation

Wie Montaigne macht Gauß die Launen, Vorlieben und Schwächen seines eigenen Ich zur Ordnungskategorie seiner Betrachtung. Der Umstand, dass ein Bett im Arbeitsraum vorhanden ist, steht wie eine Begründung dafür, dass sich hier Gedanken entgrenzen müssen. Anstatt in der kontrollierten Vertikale des Handelns, entsteht der große Horizont im beinahe schon Oblomow’schen Liegen: „Psychoanalytiker nötigen ihre Klienten auf die Couch, weil sie paradoxerweise auf das Befreiende des Zwanges setzen. Die Klienten müssen liegen, damit die Gegenwehr ihrer Selbstzensur erschlaffe und ihnen das Assoziieren leichter gelinge; tatsächlich beginnen die Gedanken ungeregelt zu strömen, kaum, dass man sich aus der Vertikale, in der man wachsam, vorsichtig, wehrbereit ist, als würde immerzu Gefahr drohen, in die Horizontale begeben hat.“

Am Rückzugsort der eigenen Arbeitsstube verfestigen sich die Gedanken, die nicht aus dem Kopf wollen, etwa jene über den „übergeschnappten Geografielehrer Ettore Tolomei“, dem die Faschisten „die historische Mission übertragen hatten, für all die alten deutschen Orts- und Flurnamen, die Seen und Bäche, die Berge und ihre Gipfel neue Namen zu finden“. Mit großer Begeisterung stürzt sich Gauß auf Tolomeis sprachliches Absurdistan: „Für Meran fiel ihm nicht mehr ein, als dass er ihm ein vermeintlich italienisches o anfügte, die Dreiherrenspitze übersetzte er brav zu Picco dei Tre Signori, aber aus Bruneck wollte er im Überschwang seiner Begeisterung für die Antike, die er im Faschismus wiedergeboren wähnte, ein Brunopolis machen.“

Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß
APA/Herbert Pfarrhofer
Karl-Markus Gauß: Ein Mann, der gern den Moden der Gegenwart trotzt und Gegenstände und Menschen vor dem Untergehen bewahrt. So auch in seinem neusten Buch.

Kurze Distanzen

Das Umhergeistern und Irrlichtern in Lebensgeschichten, die Lust zu entdecken, Dingen nachzugehen, Zusammenhänge zu stiften, Verbindungslinien zu ziehen zwischen Gegenständen, Orten und Werken, die ohne Bezug aufeinander scheinen, das macht die 38 Kapitel dieses jüngsten Werkes des „Vermittlers europäischer Randlagen“ (so Wolfgang Paterno vom „profil“) aus. Von seinem Haus aus wandert Gauß gedanklich durch das Sigmundstor, um, wenige Seiten und einiges an Assoziationskraft weiter, in der tschechischen Industriestadt Zlin anzukommen.

Zentrale Elemente auf der abenteuerlichen Reise durch das eigene Zimmer sind die scheinbar nutzlosen Gegenstände. „Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man nicht ohne sie aus“, heißt es beinahe programmatisch zu Beginn des zweiten Kapitels. Und im Verlauf der gut 200 Seiten lernt man einen Menschen kennen, der zwar alles andere als ein Sammler sein mag, zugleich aber zum Kollektor absurder Gegenstände wird. Tassen etwa, weil Freunde in beinahe „geheimer Absprache“ damit begonnen hätten, dem manischen Teetrinker Tassen von den Reisen aus aller Herren Länder mitzubringen.

Buchcover „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“
Zsolnay

Buchhinweis

Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer, Zsolnay Verlag, 220 Seiten, 22,00 Euro.

„Das Geheimnis des Gewöhnlichen“

Und da wären schließlich auch die Duschhauben, die der Autor, der mit Fug und Recht von sich behaupten kann, es in seinem Leben „nie zu einer Frisur gebracht“ zu haben, in absurder Höhe anhäuft. Die Duschhauben seien der Schlüssel, „das Geheimnis des Gewöhnlichen“ zu erkunden, behauptet der selbst deklarierte „einzige Sammler von Duschhauben“, um am Ende seines Buches (und wahrscheinlich auch aller Lesungen) zu fragen, „ob es denn noch jemand gebe, der es ebenfalls auf eine Kollektion von Duschhauben gebracht hat und mit mir in einen Austausch treten möchte“.

Das wahre Abenteuer hinter der Reise durch das eigene Zimmer ist die Begegnung mit der Unvergleichlichkeit. Im Grunde lässt Gauß seine Leserinnen und Leser teilhaben an den Punkten, wo sich seine eigene Geschichte mit dem Lauf einer allgemeinen Geschichte trifft, wo die Begegnung mit Orten und Menschen erst der Anstoß für das Aufspannen eines größeren historischen Horizonts ist. In der eigenen Wohnung sind scheinbar belanglose Gegenstände die Trägerraketen von Assoziationsketten.

Was allerdings die Einzigartigkeit des Ortes ausmacht, an dem so viel Abschweifung möglich ist, weiß der Ausschweifer Gauß freilich in ein berührendes Bild einzufangen: „Unsere längst erwachsenen Kinder beginnen, wenn sie uns besuchen, beim Eintreten zu schnuppern, als würden sie ihre Kindheitswohnung gerade im Vorzimmer an ihrem Geruch erkennen, den auf ewig nur diese Wohnung in der Welt für sie haben wird.“ Proust hätte es nicht besser – und wenn, sicher nicht kürzer zu sagen vermocht.