Brexit-Gegner
Reuters/Hannah Mckay
Großbritannien

Brexit-Gegner bündeln noch einmal Kräfte

Mit dem errungenen Aufschub des Brexits sehen die britischen EU-Anhängerinnen und -Anhänger ihre wohl letzte Chance gekommen, das Unausweichliche zu umgehen und etwas gegen den Austritt Großbritanniens zu unternehmen. Am Samstag ist eine große Protestaktion gegen den Brexit geplant, eine Onlinepetition wurde von Millionen Menschen unterschrieben. Die politische Schleuderfahrt geht indes weiter.

In der Onlinepetition fordern die Menschen, dass das britische Austrittsgesuch zurückgezogen wird und Großbritannien in der EU verbleibt. Das britische Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen. Dieses Ziel hat die Initiative längst erreicht: Bis Freitagabend hatten mehr als 3,8 Millionen Menschen die Petition unterschrieben. Zeitweise war die Website wegen des Ansturms nicht zu erreichen. Alle britischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – auch im Ausland – dürfen solche Onlinepetitionen unterzeichnen.

„Die Regierung behauptet immer wieder, der Austritt aus der EU wäre der ‚Wille des Volkes‘“, heißt es in dem aktuellen Petitionstext. Dem müsse ein Ende bereitet werden, indem die Stärke der öffentlichen Unterstützung für einen Verbleib deutlich gemacht werde.

Protestzug durch Londoner City

Das fordern auch die Initiatoren der großen Anti-Brexit-Demo, die am Samstag in London geplant ist. Damit will die Kampagne „People’s Vote“ für ein zweites Referendum demonstrieren. „Wir erwarten bis zu 700.000 Teilnehmer“, sagte ein Sprecher der Kampagne, Barney Pell Scholes, der dpa. Die Strecke des Protestzugs soll mitten durch die britische Hauptstadt bis zum Parlament führen.

Kanzler Kurz: „Wollen ‚Harten Brexit‘ verhindern“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagt in der ZIB2, dass ein „Harter Brexit“ abgewendet worden sei – aber nur vorerst.

All die Anstrengungen der Brexit-Gegner dürften aber ins Leere laufen. Premierministerin Theresa May hatte eine Abkehr vom Brexit beim EU-Gipfel am Donnerstag einmal mehr abgelehnt. Beim ersten Referendum über den EU-Austritt im Jahr 2016 hatte eine knappe Mehrheit, 17,4 Millionen Briten, für den Brexit gestimmt. Darüber wollen sich die britischen Politiker nicht hinwegsetzen. Ein zweites Brexit-Referendum würde zudem laut der britischen Wahlkommission mindestens vier, eher sechs Monate an Vorbereitung brauchen.

Rücktrittsaufforderung an May

Das Tauziehen um den Brexit geht einstweilen weiter, nachdem die EU Großbritannien einen Aufschub gewährt hat. Falls das britische Unterhaus dem ausgehandelten Brexit-Abkommen nächste Woche zustimmt, soll der Austritt am 22. Mai geregelt über die Bühne gehen. Gelingt das nicht, erwartet die EU von Großbritannien bis zum 12. April neue Vorschläge. Das ist auch der Tag, an dem Großbritannien spätestens entscheiden muss, ob es an der Europawahl teilnimmt. Will es einen längeren Aufschub beantragen und noch einige Monate EU-Mitglied bleiben, muss es die Wahl abhalten und Europaabgeordnete bestimmen.

Das Londoner Parlament scheint aber erneut dem Austrittsvertrag nicht zustimmen zu wollen. Britische Medien stufen die Chancen auf eine solche Zustimmung als äußerst gering ein und spekulieren bereits über einen möglichen Rücktritt Mays. Der „Daily Telegraph“ berichtete etwa, der konservative Abgeordnete Graham Brady, der ranghöchste Tory-Politiker außerhalb der Regierung, sei bereits am Montag im Regierungssitz in der Downing Street gewesen, um May eine Rücktrittsaufforderung zu übermitteln.

In einem Brief an die Abgeordneten versuchte May am Freitag, den Druck zu erhöhen. Sie drohte damit, den umstrittenen Austrittsdeal nicht noch einmal zur Abstimmung zu bringen, wenn es keine ausreichende Unterstützung dafür gebe. Das hätte einen ungeregelten EU-Austritt Londons am 12. April zur Folge.

Zitterpartie um Abstimmung

Völlig unklar ist ohnehin noch, wie sich der britische Parlamentspräsident John Bercow verhalten wird. Er hatte zuletzt ausgeschlossen, ein drittes Mal über den gleichen Vertrag abstimmen zu lassen. Der EU-Gipfel kam May für eine Abstimmung entgegen: Er billigte offiziell die Zusagen, die die EU-Kommission May im März gegeben hatte. Dieses Papier soll das Brexit-Abkommen ergänzen – und so eine neue Abstimmung im Unterhaus überhaupt ermöglichen. Ob das in London auch akzeptiert wird, bleibt abzuwarten.

Britische Premierministerin Theresa May
APA/AFP/Emmanuel Dunand
Theresa May drohte, den Deal nicht noch einmal zur Abstimmung zu bringen

Unklar war auch noch, wann zum dritten Mal abgestimmt werden kann. Nach Angaben eines Parlamentssprechers wird es zunächst am Montagabend eine Debatte über den Brexit-Kurs geben. Labour-Chef Jeremy Corbyn zufolge könnten am Mittwoch im Parlament Probeabstimmungen zu alternativen Austrittsvorschlägen abgehalten werden.

Kurz: Appell an britische Abgeordnete

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte am Freitagabend in der ZIB2 zu den Chancen, dass der Brexit-Deal im dritten Anlauf im Londoner Unterhaus angenommen wird: „Die Optimistischsten sagen, es ist 50:50. Wir müssen jedenfalls damit rechnen, dass es nicht durchgeht.“

Eine Verschiebung des Brexits bis nach der Europawahl im Mai wäre jedenfalls nicht wünschenswert. „Eigentlich waren alle Kolleginnen und Kollegen im Rat einer Meinung, dass wir uns eine Verschiebung über die Europawahl hinaus nicht vorstellen können“, sagte Kurz. Würden die Briten an der EU-Wahl teilnehmen, würde das „Chaos aus Großbritannien (…) in die Europäische Union importiert“. Die Folge wäre, dass es dann „spätestens am 12. April“ einen weiteren EU-Gipfel gebe. „Die einzige Chance, die es de facto gibt, ist, dass es im Unterhaus ein Umdenken gibt“, sagte Kurz. Er appellierte an die britischen Abgeordneten zu begreifen, „dass das wirklich ihre letzte Chance ist“ und nicht nachverhandelt werde.

EU-Ratschef Donald Tusk sagte, nun sei das britische Parlament wieder am Zug. „Das Schicksal des Brexits liegt in den Händen unserer britischen Freunde“, so Tusk. „Wir sind auf das Schlechteste vorbereitet, aber hoffen das Beste. Wie Sie wissen: Die Hoffnung stirbt zuletzt.“