Parlament in London
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Brexit-Chaos

Wirtschaft rebelliert gegen Politik

Während sich das britische Parlament weiter nicht auf einen Brexit-Kurs verständigen kann und in Abstimmungen gleich acht Brexit-Alternativen abgelehnt hat, wächst der Frust in der Wirtschaft. Die britische Handelskammer greift die Politik angesichts eines drohenden „Hard Brexit“ ungewöhnlich scharf an – die Unternehmen würden im Stich gelassen.

„Wir sind frustriert, wir sind wütend“, sagte der Vorsitzende der Britischen Handelskammer (BCC), Adam Marshall, am Mittwoch. „Unsere gewählten Repräsentanten dürfen nicht weiter Regenbögen nachjagen“, sondern müssten endlich Entscheidungen treffen, so Marshall. Ein ungeordneter EU-Austritt aber wäre eine „ungeheuerliche Pflichtverletzung“.

Auch die britische Autobranche sieht sich angesichts der scheinbaren Ausweglosigkeit zu einem Aufschrei veranlasst: Nach Brachenangaben brach die Produktion im Februar auf Jahressicht um 15,3 Prozent ein. Es ist der neunte Monat in Folge mit einem Rückgang. Verbandschef Mike Hawes sprach von einem Weckruf für all diejenigen, die immer noch glaubten, die Branche könne einen „No Deal“ ohne ernsthaften Schaden überleben.

Gegen alle Alternativen gestimmt

Anlass für den neuen Frust waren die jüngsten Entwicklungen, die ein Szenario ohne Ausstiegsvertrag wieder wahrscheinlicher machten: Das Unterhaus entschied sich am Mittwoch gegen sämtliche acht Brexit-Alternativen. Bei der für die Regierung nicht bindenden Abstimmung über verschiedene Varianten gab es für kein einziges Szenario eine Mehrheit.

Theresa May
APA/AP/Jessica Taylor
Die britische Premierministerin May zeigte sich am Mittwoch bereit, vor weiteren Brexit-Gesprächen zurückzutreten

Zur Wahl standen praktisch alle Szenarien für die künftige Beziehung mit der EU: Angefangen von einem „No Deal“-Brexit über einige Varianten, die ein engeres Verhältnis mit der EU vorsehen, bis zu einem weiteren Referendum – Mehrheit gab es letztlich keine, wie am späten Mittwochabend im Unterhaus bekanntgegeben wurde.

„No Deal“ am deutlichsten abgelehnt

Am deutlichsten wurde ein „No Deal“-Brexit abgelehnt: Mit 160 Ja- zu 400 Nein-Stimmen entschied sich das Parlament klar gegen den ungeregelten Ausstieg aus der EU. Knapp fiel hingegen das Ergebnis zum Verbleib in der Zollunion aus, genauso wie das Votum über ein neues Referendum, bei dem die Bevölkerung über die künftige Beziehung mit der EU abstimmen müsste. 268 Abgeordnete stimmten für diesen Antrag, 295 dagegen.

Sowohl die Zollunion als auch ein weiteres Referendum konnten damit mehr Stimmen erreichen als der von May ursprünglich ausgehandelte Deal – im letzten Anlauf erreichte dieser lediglich 242 Stimmen. Darauf wies im Anschluss an das Ergebnis die Labour-Abgeordnete Anneliese Dodds hin. Kurioses Detail: Ein zweites Referendum, wie es von Labour gefordert wird, wurde mit einem Rückstand von 27 Stimmen abgelehnt, dabei stimmten exakt 27 Labour-Abgeordnete gegen den Änderungsantrag, wie aus dem online einsehbaren Ergebnis hervorgeht.

Parlament stimmt Verschiebung von Brexit zu

Ausnahmsweise relativ deutlich wurde im Abgeordnetenhaus am Mittwochabend für eine Verschiebung des Brexit-Datums gestimmt. Damit wurde nun auch auf nationaler Ebene die Verschiebung von 29. März auf den 12. April geregelt. 441 Abgeordnete stimmten dafür, nur 105 votierten dagegen.

Balkengrafik zeigt die Brexit-Abstimmungsergebnisse im Detail
Grafik: ORF.at; Quelle: BBC

Möglicher Aufwind für Mays Brexit-Deal

Die Abgeordneten hatten für die Abstimmungen der Regierung zeitweise die Kontrolle über die Tagesordnung im Unterhaus aus der Hand genommen. Mit den richtungweisenden Entscheidungen wollte das Parlament ausloten, für welche Alternativen es eine Mehrheit gibt. Auch den kommenden Montag hatten sich die Abgeordneten bereits für ihre Zwecke reserviert.

Nun könnte aber ausgerechnet Premierministerin May von dem Ergebnis profitieren, die am Mittwoch ihren Rücktritt angeboten hatte – allerdings erst in der nächsten Phase der Brexit-Gespräche. Der Rücktritt ist damit also offenbar daran gekoppelt, dass Mays mit der EU ausgehandelter Deal im Parlament doch noch angenommen wird.

May bietet Rücktritt an

„Ich bin bereit, mein Amt früher als geplant abzugeben, um das zu tun, was richtig für unser Land und unsere Partei ist“, so May in einem Statement am Mittwochabend, das von Downing Street 10 in Auszügen veröffentlicht wurde. „Es war eine Zeit der Prüfungen für unser Land und unsere Partei.“

„Wir sind kurz davor, ein neues Kapitel anzufangen und an einer besseren Zukunft zu arbeiten.“ Sie habe die „Meinung der Partei“ vernommen, dass es den Wunsch nach „neuen Zugängen – und neuer Führung – in der nächsten Phase der Brexit-Gespräche“ gebe. „Ich werde nicht im Weg stehen“, so May.

Doch dritte Abstimmung möglich?

Ob es überhaupt zu einer weiteren Abstimmung über Mays Deal kommt, galt jedoch als alles andere als gesichert. Der Speaker des britischen Unterhauses, John Bercow, sagte am Mittwoch, dass man die Abgeordneten nicht noch einmal über Mays Brexit-Deal abstimmen lassen könne – außer es gebe wesentliche Änderungen. Nun allerdings hat Bercow Medienberichten zufolge der Regierung über Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox die Möglichkeit signalisiert, das Abkommen am Freitag ins Unterhaus zu bringen.

„Hard Brexit“-Verfechter nicht restlos überzeugt

Nach Mays Ankündigung vor ihrer Partei gingen die Meinungen unter den Abgeordneten auseinander. Jacob Rees-Mogg, einer der größten Widersacher Mays in der eigenen Partei und Verfechter eines „Hard Brexit“, signalisierte nun Unterstützung für den von May ausgehandelten Deal – allerdings nur dann, wenn die nordirische DUP, auf deren Stimmen Mays Regierung angewiesen ist, sich zumindest der Stimme enthält.

Danach sieht es aber nicht aus: Die DUP will gegen Mays Brexit-Vereinbarung stimmen. Nicht abzustimmen komme nicht infrage, sagte DUP-Chefin Arlene Foster am Donnerstag dem irischen Sender RTE. „Eine Enthaltung wäre die schlechteste aller Möglichkeiten, denn sie würde nicht zeigen, wo man beim wichtigsten Thema unserer Zeit steht.“

Beratung über Auswege

Die DUP stützt Mays konservative Minderheitsregierung. Die Regierung beriet mit der DUP über einen möglichen Ausweg aus dem Brexit-Chaos. BBC-Informationen zufolge sei kein Durchbruch zu erwarten.

Restlos überzeugt waren die „Hard Brexit“-Verfechter jedoch nicht. Ein Reporter der BBC schrieb auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, dass das Angebot „vage“ sei und einige Mitglieder der European Research Group (ERG) rund um Rees-Mogg nicht überzeugt waren.

Der stellvertretende Chef der ERG, Steve Baker, reagierte gar „wütend“ auf das Angebot Mays, schrieb der „Guardian“ und berief sich dabei auf eine Quelle innerhalb der Gruppe. Er wolle jetzt lieber „zurücktreten, als Teil davon zu sein“, so Baker in einer emotionalen Rede, in der er offenbar auch erwähnte, dass er das Parlament am liebsten „niederreißen“ würde.

Boris Johnson will für Mays Deal stimmen

Finanzminister Philip Hammond zeigte sich laut einem Journalisten des Fernsehsenders ITV „traurig“, hoffe jedoch darauf, dass das Angebot der Premierministerin „funktionieren wird“. Auch Ex-Außenminister Boris Johnson war anwesend – er habe nach dem Statement Mays nichts gesagt, mehrere Reporter berichteten aber, dass er „glücklich“ ausgesehen habe. Wenig später gab er bekannt, nun für den Deal von May stimmen zu wollen.

Corbyn sieht Parteipolitik im Vordergrund

Labour-Chef Jeremy Corbyn zeigte sich erwartungsgemäß wenig begeistert von Mays Ankündigung. Auf Twitter schrieb der Chef der Oppositionspartei, dass Mays Versprechen an ihre Abgeordneten „ein für alle Mal“ beweise, dass es bei ihren „chaotischen Brexit-Verhandlungen nur um Parteipolitik, nicht um Prinzipien oder das Interesse der Bevölkerung“ ging. Ein „Wechsel der Regierung kann kein Tory-Flickwerk sein, die Bevölkerung muss entscheiden“, so Corbyn.

Cornelia Primosch über Mays Rücktrittsangebot

ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch berichtet, dass das Rücktrittsversprechen von May die Chancen auf ein Ja zu ihrem Deal erhöhe.

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kritisierte das Vorgehen Mays ebenfalls. „Wenn der Brexit auf der Basis eines Deals durchgesetzt wird, den niemand unterstützt – ein Deal, der so schlecht ist, dass die Premierministerin ihren Rücktritt anbieten muss, um ihn durchzubekommen, wird ein schlechtes Projekt noch schlechter“, so Sturgeon auf Twitter.

Genauer Zeitplan noch unbekannt

Einen Zeitplan für ihren möglichen Rücktritt ließ May unterdessen noch offen. Die BBC-Reporterin Laura Kuenssberg bezog sich auf ungenannte Quellen und schrieb, dass May ihre „letzte große Reise“ zum G-20-Gipfel Ende Juni in Japan antreten werde, ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin könnte bis Mitte Juli im Amt sein. Unklar ist auch, was passiert, wenn Mays Deal nicht angenommen wird oder gar nicht erst zur Abstimmung kommt. Dann sei das „ein ganz anderes Spiel“, zitierte die BBC-Journalistin eine Quelle.

Als mögliche Nachfolger von May kursieren bereits länger Namen. Der „Guardian“ sieht etwa Ex-Außenminister Johnson, dessen Nachfolger Jeremy Hunt, Ex-Brexit-Minister Dominic Raab und Umweltminister Michael Gove im Rennen um die Regierungsspitze.