Spritzen und Tabletten
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US-Opioidkrise

Die dritte Welle ist die verheerendste

Für US-Bürger ist es zurzeit wahrscheinlicher, an einer versehentlichen Überdosis Opioiden zu sterben als durch einen Autounfall. Die dritte Welle der Drogenkrise in den Vereinigten Staaten ist im Gange – das immens starke Schmerzmittel Fentanyl ist verantwortlich für jährlich Zehntausende Tote, darunter auch Größen aus der Musikbranche.

Einer Anfang des Jahres veröffentlichten Untersuchung der Organisation National Safety Council (NSC) zufolge betrug die – auf die gesamte Lebenszeit hochgerechnete – Wahrscheinlichkeit, in den USA im Jahr 2017 durch opioidhaltige Schmerzmittel zu Tode gekommen zu sein, eins zu 96. Die Todesrate bei Unfällen im Straßenverkehr lag dagegen bei eins zu 103.

Das National Institute on Drug Abuse (NIDA) zählte 2017 mehr als 72.000 Tote durch Arzneien und Rauschmittel. Über 43.000 von ihnen starben der NSC zufolge durch versehentliche Überdosen von Opioiden – Männer dreimal so häufig wie Frauen, die Todesrate bei Afroamerikanern und Latinos stieg schneller als bei Weißen. Besonders frappant ist der Anstieg der Fälle von jungen Erwachsenen zwischen 25 und 34 Jahren, deren Tod durch Fentanyl oder Fentanyl-Analoga verursacht wurde.

Opioide en masse

Diese Mitte März in einem Bericht des Center for Disease Control and Prevention (CDCP) veröffentlichten Zahlen zeugen von der dritten Welle der Opioidkrise in den USA, wie der Medienkonzern NPR unlängst berichtete. In den 1990er Jahren kam die Schmerztherapie mit Opioiden in Mode – eine kurzfristige Einnahme führe nicht zur Abhängigkeit und sei harmlos, hieß es damals. Ungereimtheiten wie fehlende klinische Studien wurden vernachlässigt.

Sanitäter mit Patienten im Krankenwagen
Reuters/Brian Snyder
2017 starben in den USA laut Statistik etwa 49.000 Menschen an einer Überdosis Opioide

Das Medikament Oxycontin etwa wurde von dem Konzern Purdue Pharma jahrelang als völlig unbedenklich vermarktet – Hauptprofiteur war der Konzerninhaber, die steinreiche US-Familie Sackler. Mittlerweile laufen etliche Verfahren gegen die Sacklers, seit Kurzem auch eines, das sich gegen acht Familienmitglieder selbst richtet. Mehr als 500 Countys und Städte aus 26 Bundesstaaten sowie acht Stämme von Native Americans haben sich der Klage angeschlossen.

Aus Schmerzpatienten wurden Junkies

2015 verschrieben Ärzte in den USA so viele Opioide, dass jeder und jede Erwachsene die Schmerzmittel wochenlang einnehmen hätte können. Hunderttausende Patientinnen und Patienten wurden schließlich süchtig – das künstliche Morphin macht extrem schnell abhängig, besonders wenn man die Pille nicht einfach schluckt, sondern beispielsweise zerstampft und dann einnimmt.

Dritte Welle der Krise

Die Krise begann mit der massenweisen Verschreibung von Opioiden, immer mehr Menschen wurden abhängig. Als diese Verschreibungspraxis endete, wichen Betroffene auf Heroin aus, das am Schwarzmarkt billiger war – Schmerzpatienten wurden zu Junkies. Um die wachsende Nachfrage bedienen zu können, halfen sich Dealer auch mit Fentanyl aus, das sie aus China importierten.

Als die massenweise Verschreibung der Opioide langsam ein Ende nahm, wichen Abhängige auf den Schwarzmarkt aus und griffen dort notgedrungen oftmals auf das billiger zu bekommende Heroin. In den vergangenen Jahren kam dann Fentanyl ins Spiel – eine Substanz, die 70- bis 100-mal stärker ist als Morphin. Eine zu hohe Dosis kann innerhalb von einer Minute zu Atemstillstand führen.

Es wird als Anästhetikum bei Operationen verwendet und um chronische Schmerzen zu lindern – in diesen Fällen kommt es zumeist in Form von Schmerzpflastern zum Einsatz. Diese haben den Vorteil, dass sie den Wirkstoff über einen längeren Zeitraum konstant freisetzen und die Gefahr einer Überdosis somit geringer ist. Ansonsten kann das weiße, geruchslose Pulver oral eingenommen, geraucht oder gespritzt werden.

Ende 2013 begann der unheilvolle Siegeszug von Fentanyl in den USA. In den drei darauffolgenden Jahren stieg die Zahl der tödlichen Überdosen „exponentiell“, wie Merianne Rose Spencer, eine der Autorinnen der CDC-Studie, sagte. Die jährliche Zunahme betrug im Schnitt 113 Prozent – befeuert durch den Anstieg von sowohl Schmuggel als auch Konsum.

Eine Grafik zeigt die durch Fentanyl verursachten Todesfälle in den USA in den letzten Jahren
Grafik: ORF.at; Quelle: National Center for Health Statistics

Wenig Menge, viel Gewinn

Für Dealer ist die Herstellung von Fentanyl wesentlich einfacher als die anderer Opioide, die Inhaltsstoffe sind leicht aufzutreiben. Anders als bei Heroin ist es etwa auch unerheblich, wie die weltweite Mohnernte ausfällt. Fentanyl wird synthetisch erzeugt, größter Produzent ist China. Angesichts seiner Stärke lassen sich auch aus vergleichsweise kleinen Mengen hohe Gewinne lukrieren. Laut Jon DeLena von der Drug Enforcement Administration (DEA) kann ein Kilogramm geschmuggeltes Fertanyl mit anderen Drogen und Füllmasse so gestreckt werden, dass schließlich bis zu acht Kilo in den Verkauf gelangen.

Die Gefahr einer Überdosis ist weit größer als bei Heroin – nicht nur angesichts der Potenz, sondern auch weil der Rausch nach der Einnahme von Fentanyl kürzer anhält. Abhängige haben also schneller das Bedürfnis, wieder zu der Droge zu greifen, was das Risiko deutlich erhöht. Fentanyl wird auch Kokain und Methamphetaminen zugemischt, teils versehentlich, weil Dealer ihre gesamte Ware an einem Ort lagern und verpacken. Großteils aber wohl, um mehr Abhängigkeit zu erzeugen. So sind sich Drogenkonsumenten mitunter gar nicht bewusst, dass sie Gefahr laufen, Opfer einer Überdosis zu werden.

Prince, 2007
AP/Chris O’meara
Prince starb am 21. April 2016 nach einem – vermutlich unwissentlichem – Medikamentenmix

So dürfte es sich, einem Bericht des „Rolling Stone“ zufolge, auch bei Popstar Prince verhalten haben, der vor drei Jahren starb. Experten sagen, dass Prince wahrscheinlich nicht wusste, was genau er einnahm. „Ich garantiere Ihnen, dass Prince nicht gesagt hätte: ‚Ich nehme Fentanyl‘“, wurde Scott Bienenfeld, ein Suchtpsychiater, dessen Klientel zu einem Gutteil aus Musikern besteht, zitiert. „Die meisten meiner Patienten sind Schmerzpatienten, und jemand verschrieb ihnen dann Fentanyl: ‚Sie haben Oxycontin genommen, jetzt nehmen Sie das hier.‘ Die meisten davon, glauben Sie mir, wussten nicht, dass da Fentanyl im Spiel war.“

Musikbranche immer schon anfällig

Opioide sind in der Musikbranche seit Jahrzehnten ein trauriger Bestandteil – bei Elvis Presley etwa wurden Codein und Percodan nachgewiesen, als er 1977 starb. Doch der Aufstieg von Fentanyl ist wohl einem jüngeren Phänomenen geschuldet – Künstler touren mehr als je zuvor. „Der Stress dabei ist enorm, aber nur so kommt Geld herein“, zitierte der „Rolling Stone“ Harold Owens, einen Spezialisten bei der Behandlung drogenabhängiger Künstler.

Liveauftritte zehren an den Nerven, vor allem aber an der Physis. Prince etwa begann die schmerzstillenden Substanzen nach einer Hüftverletzung einzunehmen, die dieser Belastung geschuldet war. In den vergangenen Jahren kostete eine Überdosis Fentanyl auch Rockmusiker Tom Petty, Wilco-Gitarrist Jay Bennett, 3-Doors-Down-Gitarristen Matt Roberts und Slipknot-Bassisten Paul Gray das Leben. Im November 2017 starb der aufstrebende US-Rapper Lil Peep im Alter von 21 Jahren, nachdem er kurz vor einem geplanten Konzert sechs Tabletten des Beruhigungsmittels Xanax zu sich genommen hatte, in denen auch Fentanyl vorhanden war.

China lenkt ein

Einen kleinen Lichtblick in der Krise gab es dieser Tage zu vermelden – der Zugriff auf die vielfach tödlichen Pillen wird erschwert. Bis dato konnten diese einfach online aus China bestellt, in die USA verschickt und per Kreditkarte bezahlt werden. Wenn Peking ein Produkt verbot, genügte es, die Rezeptur leicht abzuändern und unter neuem Namen auf den Markt zu bringen.

Damit soll ab 1. Mai Schluss seien – China beugte sich im Handelsstreit dem Druck der USA. Ab dann wird Fentanyl in allen Zusammensetzungen auf der Liste kontrollierter Substanzen stehen, Kommunikationskanäle der Dealer sollen geschlossen und Lieferdienste genau geprüft werden. Nachsatz der chinesischen Regierung: „Wenn die USA das Fentanyl-Problem wirklich lösen wollen, sollten sie ihre Anstrengungen vor Ort intensivieren.“