Gebäude in Helsinki
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Landflucht in Scharen

Finnland zieht in die Stadt

Finnen und Finninnen ziehen in Scharen vom Land in die Stadt – und das nicht erst seit gestern. Alleine zwischen 2010 und 2017 zogen zehn Prozent der Bevölkerung in die großen Städte. Aber wo sollen die alle hin? Helsinki begreift das rasche Wachstum als Chance und will es besser machen als andere Städte. Expertise dafür holt man sich aus der internationalen Vorzeigestadt Wien.

Es gibt Zeiten zum Verwalten und Zeiten zum Gestalten. Hanna Dhalmann, Joakim Breitenstein und Oliver Scheifinger merkt man an, dass in Helsinki die Zeit des manischen Gestaltens angebrochen ist – Pioniergeist und Visionen sind gefragt, wer zaudert, verliert. Die drei sitzen im schöneren Teil von Helsinki, im stylischen Studio von Breitenstein und Scheifinger des österreichischen Architekturbüros tafkaoo architects. Wien gilt mit Projekten wie der Seestadt und dem Sonnwendviertel als Beispiel dafür, dass Neubausiedlungen mit (zum Teil) leistbaren Wohnungen nicht Tristesse und Ausweglosigkeit ausstrahlen müssen.

Tafkaoo hat drei Büros mit zahlreichen Mitarbeitern, eines in Wien, eines in Berlin, und seit Kurzem eben auch jenes in Helsinki, in dem Breitenstein und Scheifinger das Sagen haben. Hier lässt sich etwas umsetzen, hier ist die österreichische Expertise gefragt. Und während in Berlin aufgrund des administrativen Chaos der Stadtverwaltung jeder Auftrag mit großem Personalaufwand verbunden und ein Anschlag auf das Nervengerüst der Architekten ist, kann man sich in Finnland auf die Paktfähigkeit der öffentlichen Hand verlassen.

Eindruck zur Stadtplanung in Helsinki
ORF.at/Simon Hadler
Rege Bautätigkeit im neuen Viertel am alten Hafen

Keiner will die Waldheimat

Hier kommt Dhalmann ins Spiel. Sie ist Vizedirektorin des Amtes für öffentlichen Wohnbau. Gemeinsam mit Breitenstein beschreibt sie die Dringlichkeit der Bauaktivitäten. Die zahlreichen Kleinstädte irgendwo im nirgendwo, umgeben nur von Wald, waren früher rund um Sägewerke gegründet worden, die nun, nach der Ostöffnung, jede Bedeutung verloren haben. Plötzlich gab es immer weniger Jobs, viele zogen weg, dadurch wurde die Infrastruktur immer schlechter, noch mehr verließen die Kleinstädte – ein Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint.

Mittlerweile wohnen 83 Prozent der Finninnen und Finnen in Städten, in Österreich etwa sind es 53 Prozent. Bis zu 8.000 große Mietskasernen – viele aus den 70er Jahren – stehen im ganzen Land leer. Der Versuch, Asylwerber dort unterzubringen, ist gescheitert, auch die wollten aufgrund der fehlenden Infrastruktur nicht bleiben. Mittlerweile werden von der öffentlichen Hand Prämien für den Abriss bezahlt.

Eindruck zur Stadtplanung in Helsinki
ORF.at/Simon Hadler
Joakim Breitenstein und Oliver Scheifinger von tafkaoo architects in ihrem Büro in Helsinki

Städtebau im Fast-forward-Modus

Dhalmann erzählt von einem Bekannten, der sich unlängst ein wunderschönes Haus mit riesigem Grundstück um deutlich unter 100.000 Euro gekauft hat, weil die Preise für Einfamilienhäuser am Land im Keller sind. Für jene, die weg wollen, ist das ein zusätzlicher Schlag: Sich um das Geld vom Haus auf dem Land eine Wohnung in der Stadt zu kaufen ist völlig außer Reichweite. Deshalb ist gerade der Bedarf an günstigen Wohnungen so groß.

Die Stadt baut wie wild. Breitenstein ist jedes Mal aufs Neue erstaunt, wenn er durch das gerade entstehende neue Wohnviertel rund um den alten Hafen schlendert. Überall Kräne und Baugruben, dazwischen bereits fertige Siedlungen, die gerade bezogen werden; Tausende weitere Wohnungen warten auf Mieter – die bereits Schlange stehen. Von geförderten Eigentumswohnungen über Genossenschaftsmodelle bis hin zu gestützten Sozialbauten werden sämtliche Finanzierungsmodelle angeboten.

Das Dorf in die Stadt verpflanzen

Aber günstig alleine reicht nicht. Wenn ein ganzes Land vom Dorf in die Stadt zieht, muss man auch dörfliche Strukturen übersiedeln, will man Menschen nicht der Vereinsamung preisgeben. Scheifinger von tafkaoo sagt, dass Wien Vorreiter und Experimentierfeld gewesen sei, quasi Wohnen 2.0, während Finnland im Wohnbau gleich von Phase 1.0 auf Phase 3.0 überspringen könne. In Finnland gebe es jetzt mehr Mut, Risiken einzugehen.

In Österreich sei der Wohnbau auch mittlerweile vergleichsweise teuer, weil es so viele Normen und Regeln gebe – was etwa die Dicke von Wänden in Wohnhäusern betrifft – und somit dann finanzieller Spielraum für Extras fehlt, die ein buntes Community-Leben erst möglich machen. Ein Vorbild sei Wien aber dennoch: Das gemeinsame Finanzieren von Wohnbauten durch jene, die sie errichten und jene, die später darin wohnen werden, habe sich bewährt und werde nach Finnland exportiert. Das Grundprinzip: Wer am fertigen Gebäude verdient oder darin lebt, der wird in der Entstehungsphase alles dafür tun, dass das Gebäude hochwertig und nachhaltig ist.

Eindruck zur Stadtplanung in Helsinki
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Hanna Dhalmann, Vizedirektorin des Amtes für öffentlichen Wohnbau in Finnland; daneben die tafkaoo-Bibel „Affordable housing“

Für Visionen zahlt der Mieter

Breitenstein – er ist Finne – zeigt sich vor allem auch davon überzeugt, dass es besser ist, wenn Architekten für die Finanzierbarkeit ihrer Entwürfe selbst verantwortlich sind. In Finnland seien Architekten Visionäre, die viel zu wenig auf die finanzielle Umsetzbarkeit achten würden. Auch hier könne sein Land von Österreich lernen. Scheifinger gibt Architekten, die sich bei einem Wohnbau gerne selbst in Szene setzen, so als erbauten sie ein Museum für moderne Kunst, folgendes Mantra mit auf den Weg: „Meine Geste zahlt wer. Ich baue für die Hausbewohner, nicht für mich.“

Aufs Ganze geht sein Büro knapp nördlich von Helsinki, wo nach diesem Prinzip gleich ein ganzes Dorf auf der grünen Wiese hochgezogen wird – die österreichischen Architekten von tafkaoo architects bauen mit. Ein Drittel des Areals soll kommerziell genutzt werden, ein Drittel soll aus Gemeinschaftsflächen bestehen und ein weiteres Drittel ist für leistbares Wohnen reserviert. Aufgrund des wohl überlegten Finanzierungmixes könne man bei den Wohneinheiten mehr auf Qualität setzen, als das bei rein kommerziellen, frei finanzierten Projekten der Fall sei.

Eindruck zur Stadtplanung in Helsinki
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Dutzende Wohnblocks sind bezugsfertig oder kurz davor

Aus der Garage wird ein Kindergarten

Wie man auf Nachhaltigkeit setzt, erklärt Scheifinger am Beispiel der Garage. Da jetzt noch fast jeder ein Auto hat, wird sie groß dimensioniert. Aber weil sich das durch Projekte wie Carsharing und ein größeres Bewusstsein für den Klimawandel in den nächsten 20 Jahren ändern wird, ist die Garage schon so geplant, dass man später zum Beispiel einen Kindergarten aus ihr machen kann. Das freut auch Dhalmann von der der Wohnbaubehörde. Aus Pilotprojekten wie diesem könne man viel lernen – selbst und gerade wenn nicht immer alles gleich funktioniert.

Bereits erprobt (nicht zuletzt in Wien) ist ein Modell, das im neuen Hafenviertel umgesetzt wurde und seit zwei Jahren bewohnt wird. Breitenstein stellt die Hausverwalterin Ella Remonen vor, die sichtlich stolz ist auf „ihre“ drei „Settlementti asunnot“-Wohnblöcke – einer mit Mietwohnungen, einer mit Eigentumswohnungen und einer für Studenten. Gezielt wurden neben Familien und den Studenten auch Menschen mit Behinderung, Pensionisten und Migranten angesiedelt. Multikulturelles Multigenerationenwohnen ist das Motto.

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Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Drei Blocks gehören zum Projekt: Einmal mit Eigentumswohnungen, einmal für Studenten, einmal Mietwohnungen
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Im Amphitheater werden Veranstaltungen ausgerichtet, unter anderem werden Filme gezeigt
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Eine geräumige Werkstatt samt Werkzeug steht allen zur Verfügung. Es braucht nicht jeder seine eigene Stichsäge.
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Das ist keine Krankenstation – so sieht ein Flur mit Mietwohnungen aus. Farbpsychologisch wohl ausgeklügelt, aber gewöhnungsbedürftig.
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Hausverwalterin Ella Remonen; Community-Aktivitäten und gemeinsame Anliegen werden via Message-Board kommuniziert.
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Mehrere Aufenthaltsräume stehen zur Verfügung
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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In der großen gemeinsamen Wohnküche gibt es eine Kleinkindecke. Eine eigene Küche hat trotzdem jede Wohnung.
Eindruck aus dem Wohnbau in Helsinki
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Ein Klassiker unter den Community-Räumen: Das kleine Fitnesscenter

Werkstatt, Fitnessraum, Amphitheater

Das funktioniert nicht von selbst. Ein Community-Koordinator kümmert sich 20 Stunden die Woche um die 400 Bewohnerinnen und Bewohner. Er hat etwa einen gemeinsamen Brunch jeden Sonntag angestoßen, der mittlerweile zum Selbstläufer geworden ist. Die Gemeinschaft wird auch sonst groß geschrieben. Es gibt für alle zusammen eine toll ausgestattete Werkstatt, ein Fitnesscenter, einen Aufenthaltsraum mit Küche, Tischen und einer Babyecke. Imposant ist ein kleines Amphitheater, das als Kino und Veranstaltungsraum genutzt wird.

Auch hier standen Tausende Schlange, um einziehen zu dürfen. Die Mieten sind gestützt, obwohl es sich um ein privates Projekt handelt, und die Preise für die Eigentumswohnungen liegen 20 Prozent unter dem Marktwert, dafür dürfen sie 30 Jahre lang nicht weiterverkauft werden. Vom Design her sind die Wohnblöcke gewöhnungsbedürftig – man wähnt sich in einem Krankenhaus.

Ein Haus, das vor Einsamkeit schützt

Aber das Zusammenleben funktioniert laut Remonen reibungslos, es hätten sich in den ersten beiden Jahren schon viele Freundschaften gebildet. Als Beispiel nennt sie eine Gruppe alter Damen, die nicht nur ihre Freizeit miteinander verbringen, sondern sich auch rührend umeinander kümmern, wenn eine von ihnen krank ist. Und viele Studentinnen und Studenten verdienen sich als Babysitterinnen und Babysitter bei den Jungfamilien etwas dazu – ein echter Mehrwert für beide Seiten. Remonen sagt: Das Haus schützt vor Einsamkeit.

Es geht weiter durch den von der emsigen Bautätigkeit verdreckten Schnee, vorbei an Dutzenden bunten Wohnburgen, die noch nicht bezogen sind, hin zum ersten privaten Community-Living Projekt Finnlands seit dem Zweiten Weltkrieg. Entstanden ist es aus der Not heraus. Der Journalistin Salla Korpela fiel nach der Scheidung die Decke auf den Kopf, sie sah als Single-Mom nur noch die eigenen vier Wände und die drei Kinder – und fühlte sich einsam.

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Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Stilvoller Wintergarten mit Gasgriller und Blick auf Helsinki. Wer hier feiern will, bezahlt aber extra
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Feste mit über 100 Besuchern wurden hier schon gefeiert, Klavierabende, Kinoabende (Beamer) oder einfach gemeinsame Abendessen
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Die Gründerin des Hausprojektes suchte nach Möglichkeiten, der Vereinsamung in der Stadt entgegenzuwirken
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Was gehört zur Lebensqualität? Eine gemeinsame Bibliothek mit zahlreichen Zeitungsabos, meinen die Hausbewohner
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Hier wird geklotzt und nicht gekleckert: Eine Küche, die auch für den ganz großen Besuch groß genug ist
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Die Ausstattung ist professionell – die Gemeinschaftsküche ist für Hobbyküche ein Paradies
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Im Hobbyraum: Kopierer, Schlagzeug, Heimtrainer und sogar ein Webstuhl
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Es wäre nicht Finnland, gäbe es nicht zwei Gemeinschaftssaunen. Aber auch für die muss eine Gebühr bezahlt werden
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Dachterasse mit spektakulärem Blick auf das neu entstehende Hafenviertel Helsinkis
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Gemeinschaftsraum mit Blick auf die Stadt, dazu eine kleine Küche und ein Gästezimmer – falls einmal jemand übernachten möchte
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Man ist um Praktikabilität bemüht – aber auch um Behaglichkeit. Die Pflanzenmeile im Gang zu den Saunen
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Auch hier wurde nicht gespart: Die perfekte Werkstatt für Hobbybastler
Eindruck aus Wohnbauprojekt in Helsinki
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Ordentliche Waschmaschinen – wie in einer Münzwäscherei – stehen allen kostenlos zur Verfügung

Wohnen mit der ganzen Mischpoche

Also fand sie im Verwandten-, Freundes- und im weiteren Bekanntenkreis genügend Verbündete, um gemeinsam ein Grundstück zu kaufen und Architekten zu engagieren. Gemeinsam wurde das Haus „Malta“ geplant, und 2013 waren die 61 Appartments für 120 Bewohner fertig. Ernst und ruhig sagt Korpela, dass es völlig verrückt war, so viel Energie und Zeit in das Projekt zu stecken, aber es habe sich ausgezahlt.

Verrückt wirkt Korpela nicht, sie stellt Pragmatik vor Visionen: „Das soll wirklich keine Kommune und auch keine Kolchose sein.“ Ihr Vater ist Herzinfarktpatient, ihre Mutter leidet unter Demenz – auf die beiden kann sie nun gemeinsam mit ihren Kindern und Freunden stets ein Auge haben, man wohnt ja im selben Haus. Aber Korpela profitiert von ihren Erfahrungen noch auf andere Weise: Sie hat es sich zum Beruf gemacht, Gruppen zu betreuen, die ähnliche Projekte angehen wollen.

Party als Teil des Wohnprojekts

Es gibt immer mehr Projekte wie ihres in Helsinki, sagt sie, der Bedarf sei enorm. Vor allem die verschiedenen Generationen würden gerne zusammenwohnen. Die Angst vor Einsamkeit ist ein großes Thema – und einsam ist Korpela selbst längst nicht mehr. Am Freitagabend kocht immer wer auf im Gemeinschaftsraum und es wird Wein getrunken. Bei einer Valentinstagsparty haben sie es sogar auf 100 Gäste gebracht; kein Problem bei der Riesenküche mit den Profigeräten, die jeder benutzen darf. Und wenn am Tag danach alle verkatert sind – die zehn Ärztinnen und Ärzte im Haus werden Mittelchen dagegen haben.

Yogakurs, Tangokurs, Pianokonzerte, ein Flohmarkt, Geburtstagsfeiern – irgendetwas ist immer los. Nicht ganz ohne morbiden Humor erzählt Korpela davon, wie 130 Personen zum Leichenschmaus ihrer Schwiegermutter kamen. Auch die hatten Platz.

Sich umeinander kümmern ist die Devise

Investoren sind also die Bewohner des Hauses selbst. Sie besitzen ihre Wohnungen. Theoretisch können die Besitzer dann Mieter in die Wohnungen setzen, die mit dem ganzen Community-Projekt nichts am Hut haben, oder, noch schlimmer, die Wohnungen weiterverkaufen. Verhindern lasse sich das nicht, aber deshalb wird ja genau geschaut, wer sich in das Projekt einkauft. Zumindest kommerziellen Investoren hat man einen Riegel vorgeschoben. Denn nur wer Teil der Community ist, kümmert sich auch um die Community. Und darum geht es schließlich, nicht nur in Korpelas Wohnprojekt, sondern in ganz Helsinki.