Stimmauszählung in Istanbul
APA/AFP/Yasin Akgul
Schlappe für Erdogan

Streit über Wahlsieg in Istanbul

In der Türkei hat die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Kommunalwahlen eine herbe Niederlage erlitten: Nach Jahren an der Macht verlor die islamisch-konservative AK-Partei (AKP) laut vorläufigen Wahlergebnissen das Rathaus in der Hauptstadt Ankara. Auch in Istanbul lag die Mittel-links-Oppositionspartei CHP mit hauchdünner Mehrheit vor der AKP. Dort ist auch ein Streit über den Sieg entbrannt.

Der Kandidat der linksnationalistischen CHP, Ekrem Imamoglu, habe einen Vorsprung von fast 28.000 Stimmen vor dem AKP-Kandidaten Binali Yildirim, erklärte der Chef der Hohen Wahlkommission (YKS), Sadi Güven, bereits in der Früh. Den Angaben zufolge kam Imamoglu auf 4.159.650 Stimmen, während der frühere Ministerpräsident Yildirim 4.131.761 Stimmen erreichte.

Zwischenzeitlich sahen türkische Medien allerdings Yilderim erneut in Führung, nach Auszählung von rund 99,8 Prozent der Stimmen hatten dann aber doch wieder die CHP und Imamoglu einen minimalen Vorsprung. Imamoglu, lag um Haaresbreite mit 48,79 der Stimmen zu 48,51 Prozent der Stimmen vor Yildirim.

Auszählungskrimi geht in die Verlängerung

Yildirim warnte allerdings in einer Pressekonferenz am Nachmittag, dass die Zählung noch nicht abgeschlossen sei. 13 Wahlurnen seien noch übrig. Sein Kontrahent habe zwar etwa 25.000 Stimmen mehr als er – „es gab aber viele ungültige Stimmen, die können das Ergebnis sehr verändern“, sagte Yildirim.

Politologe Cengiz Günay

Was bedeutet die Niederlage bei den Gemeindewahlen für die Herrschaft Erdogans? Der Politologe und Türkei-Experte Cengiz Günay analysiert das Wahlergebnis – und berichtet über die Stimmung im Land.

Der Streit hatte bereits am Sonntag begonnen: Am späten Abend hatte sich Yildirim überraschend zum Sieger erklärt. Imamoglu hatte schnell reagiert und betont, nach Zählungen seiner Partei liege er uneinholbar voran. Schnelle Ergebnisse sind in diesem erbitterten Kampf um jede Stimme nicht zu erwarten. Beide Parteien hätten nun drei Tage Zeit, um Beschwerden einzulegen, sagte der Chef der Wahlbehörde YSK, Sadi Güven.

Weil der Vorsprung für die CHP so mager ist, könnten für ungültig erklärte Stimmen das Verhältnis zwischen Gewinner und Verlierer noch umdrehen, warnten Experten wie der Türkei-Experte Michael Sercan Daventry vom Analyseblog James in Turkey. Endgültige Ergebnisse könnte es möglicherweise erst in zehn Tagen geben. Der Generalsekretär der AKP, Fatih Sahin, kündigte an, dass man auch in Ankara Einspruch einlegen werde.

Wahlbeobachter: Einzelne Unregelmäßigkeiten

Die Kommunalwahlen verliefen nach Ansicht einer Beobachterdelegation des Europarates grundsätzlich geordnet. „Abgesehen von einzelnen Unregelmäßigkeiten haben die Wahlkomitees ihre (…) Aufgaben kompetent durchgeführt“, hieß es in einer am Montag versandten Stellungnahme der 22-köpfigen Gruppe. Diese hatte nach eigenen Angaben die Kommunalwahlen am Sonntag in rund 140 Wahlstationen in mindestens sieben Städten verfolgt.

Die Gruppe kritisierte jedoch die Umstände, unter denen die Wahl stattgefunden hatte. Für eine wahrhaft demokratische Wahl sei mehr nötig, unter anderem Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Aber die erfolgreiche Teilnahme vieler Parteien sehe sie doch als „positives Zeichen für die Widerstandsfähigkeit der Demokratie in der Türkei“, hieß es in der Stellungnahme weiter. Rund 57 Millionen Türken waren am Sonntag aufgerufen gewesen, in 81 Provinzen Bürgermeister, Gemeinderäte und andere Kommunalpolitiker zu wählen. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 84 Prozent. Landesweit blieb die AKP mit zunächst rund 45 Prozent aller ausgezählten Stimmen die stärkste Partei.

Istanbul mit hohem Symbolwert

Gerade Istanbul ist für Erdogan von großer Bedeutung. „Istanbul ist das Herz, es ist wirklich wichtig für Erdogan“, sagt Ayse Ayata von der Middle East Technical University. Dort habe Erdogans Partei vor 25 Jahren erstmals gesiegt. Erdogan war im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa aufgewachsen und hatte dort seine Karriere begonnen.

1994 wurde er für die islamisch-konservative Vorgängerpartei der AKP zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt. Indem er energisch die chronischen Verkehrs-, Müll- und Wasserprobleme der Großstadt anpackte, erwarb er sich den Ruf des Machers und legte die Grundlage für seine Wahl zum Ministerpräsidenten.

Selbst Wahl hochstilisiert

Der Präsident hatte die Kommunalwahlen im Vorfeld als Frage des Überlebens für sein Land bezeichnet und zu einem Referendum über seine Regierung gemacht. Obwohl er gar nicht selbst zur Wahl stand, hatte er fast jeden Tag gleich mehrere Wahlkampfauftritte absolviert und war durchs halbe Land gereist. Die Wahl hatte er hochstilisiert zu einem Kampf um Fortbestand oder Niedergang des Landes. Im Wahlkampffinale versuchte er mit allen Mitteln, Stimmung für die AKP zu machen. So wiederholte er seinen alten Vorstoß, die Hagia Sophia in Istanbul zu einer Moschee umzuwidmen.

Erdogan-Partei verliert bei Kommunalwahlen

Bei den Kommunalwahlen in der Türkei könnte die regierende AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach der Hauptstadt Ankara nun auch die größte Metropole des Landes verlieren – Istanbul.

Böses wirtschaftliches Erwachen nicht ausgeschlossen

Mit den türkischen Kommunalwahlen ist die Landeswährung Lira jedoch erneut in Turbulenzen geraten. Erdogan weckte im Vorfeld mit verbalen Attacken gegen die USA, Spekulanten und die türkische Notenbank bei den Investoren böse Erinnerungen an die mit Mühe eingedämmte Währungskrise im vergangenen Jahr. Durch die Wahlschlappe der AKP sehen Experten das tief in der Rezession steckende Land vor einer ungewissen Zukunft und schließen ein Börsenbeben nicht aus.

Der deutsche Grünen-Politiker Cem Özdemir sieht Erdogan unter Druck. „Erstmals wackelt der Thron des Herrschers vom Bosporus“, sagte Özdemir der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die katastrophale Wirtschaftslage und der Schulterschluss der Opposition hätten „den absoluten Machtanspruch des türkischen Präsidenten ins Wanken gebracht“, so der frühere Grünen-Chef. „Die Wahlerfolge für die Opposition in Ankara und Istanbul könnten der Anfang vom Ende der Erdogan-Ära sein.“