Flüchtlinge überqueren 1994 die Grenze zwischen Ruanda und Tansania
Reuters/Jeremiah Kamau
Vor 25 Jahren

Der Völkermord, bei dem die Welt wegsah

Vor 25 Jahren hat im ostafrikanischen Ruanda ein Völkermord begonnen: Hutu-Milizen töteten in 100 Tagen bis zu eine Million Männer, Frauen und Kinder – insbesondere Angehörige der Tutsi. Der Abschuss des Flugzeugs mit dem ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana, einem Hutu, an Bord war der Auftakt zum Genozid. Die internationale Gemeinschaft sah dabei tatenlos zu.

Die genaue Zahl der Todesopfer ist bis heute unklar. Von den Vereinten Nationen (UNO) wird sie auf etwa 800.000 beziffert, andere Stellen sprechen von einer Million. Doch selbst die vorsichtigsten Schätzungen gehen von mindestens 500.000 aus.

Angehörige der Hutu-Mehrheit metzelten etwa drei Viertel der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit nieder. Unter den Opfern waren aber auch moderate Hutus, die sich am Völkermord nicht beteiligen wollten oder sogar aktiv dagegen auftraten.

Das Vorhaben: Die Ausrottung einer Minderheit

Den Tutsis gab man nämlich die Schuld am Tod des ruandischen Präsidenten. Mit im Flugzeug an jenem 6. April 1994 war auch der burundische Präsident Cyprien Ntaryamira. Für Habyarimanas Hutu-Volksmehrheit war es der offizielle Startschuss dafür, das „Tutsi-Problem“ ein für alle Mal zu lösen. Es ging jedoch nicht nur um einen einfachen Sieg über die Minderheit, sondern darum, diese komplett auszurotten. Das Vorhaben wurde von langer Hand durch eine gut funktionierende Propagandamaschinerie vorbereitet.

Regierungssoldat Ruandas, 1994
APA/AFP/Alexander Joe
Mit Gewehren und Granaten, Macheten, Äxten, Speeren und Knüppeln machten radikale Hutus Jagd auf Tutsis

„Der innere Feind wird verschwinden“

Im Radio wurden die Tutsis als „Inyenzi“ (wörtlich „Kakerlaken“) beschimpft. Der Journalist Hassan Ngeze des Senders Radio Television Libre des Mille Collines verbreitete die Nachricht: „Wir werden jetzt damit beginnen, den inneren Feind zu beseitigen. Er wird verschwinden.“ Todeslisten wurden angelegt, mit den Namen von Tutsis und oppositionellen Hutus.

Regierungsnahe Interahamwe-Milizen, Armee und Präsidentengarde, aber auch Zivilisten begannen schließlich damit, die Tutsis systematisch mit Gewehren und Granaten, Macheten, Äxten, Speeren und Knüppeln niederzumetzeln. Die Massaker überzogen das gesamte Land. Männer, Frauen und Kinder wurden getötet – auf den Straßen, in ihren Häusern und selbst in Kirchen und Schulen, in denen sie sich sicher glaubten. Oft gingen den Morden Folter, Verstümmelungen und Vergewaltigung voraus.

Schädel einiger Opfer im Ntarama Genocide Memorial in Kigali
APA/AFP/Jacques Nkinzingabo
Schädel einiger Opfer im Ntarama Genocide Memorial in Kigali

Weltöffentlichkeit hat tatenlos zugesehen

Die Weltgemeinschaft schritt zunächst nicht ein. Im Gegenteil: Die UNO-Truppen im Land wurden nach der Ermordung belgischer Blauhelme stark verringert, und französischen Truppen wurde zu große Nähe zu den Tätern vorgeworfen. „Weder das UNO-Sekretariat noch der Sicherheitsrat, die Mitgliedsstaaten oder die Medien haben den Vorboten dieser Katastrophe genügend Aufmerksamkeit gewidmet“, gab der damals für UNO-Friedenseinsätze zuständige Untergeneralsekretär und mittlerweile bereits verstorbene Kofi Annan später zu. „Nachbarn brachten ihre Nachbarn um, und Zufluchtsstätten wie Kirchen und Krankenhäuser wurden zu Schlachthöfen. Die internationale Gemeinschaft hat in Ruanda versagt.“

Kämpfer der Patriotischen Front Ruandas vor einem Flugzeugwrack
AP/Jean Marc BouJu
Ein Kämpfer der Patriotischen Front Ruandas (FPR) vor dem Flugzeugwrack, in dem der damalige Präsident zu Tode kam

Zwei Millionen ins Ausland geflüchtet

Das Morden zu stoppen gelang primär der von Tutsis im Exil 1985 in Uganda gegründeten Patriotischen Front Ruandas (FPR), die bereits 1990 eine Invasion Ruandas startete. Die FPR wurde vom heutigen Präsidenten Paul Kagame geführt – im Sommer 1994 ergriff sie die Macht. Der 1957 geborene Kagame hatte Ruanda als Kind mit seiner Familie verlassen. 1959 flohen viele Tutsis, die einst die Oberschicht in Ruanda gebildet hatten, ins Ausland. Sie wurden bei einem Aufstand der Hutu-Mehrheit entmachtet. Seit 1965 war Ruanda praktisch ein Einparteienstaat der Hutus.

Grafik zeigt eine Karte von Ruanda
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/FAO/UNHCR

Direkt nach den Morden wurde Kagame am 19. Juli 1994 Vizepräsident Ruandas. Seit 2000 herrscht er als Präsident über den ostafrikanischen Staat. Menschenrechtler werfen der FPR vor, Tausende Zivilisten und Zivilistinnen getötet zu haben, als sie im Sommer 1994 an die Macht kam. Zwei Millionen Ruander, mehrheitlich Hutus, flohen während und nach dem Genozid ins Ausland – unter anderem in die Demokratische Republik Kongo und nach Tansania.

Ruandas Präsident Paul Kagame, 1994
APA/AFP/Alexander Joe
Der damalige ruandische Vizepräsident und heutige Präsident Paul Kagame nach dem Genozid im Jahr 1994

Erste Verurteilung wegen Völkermord

Wenige Monate nach dem Massenmord in Ruanda beschloss der UNO-Sicherheitsrat im November 1994 die Einrichtung des Internationalen Tribunals für Ruanda (ICTR). Anfang 1995 nahm es seine Arbeit in Arusha, einer Stadt im Norden Tansanias, auf. Das Gericht wurde Ende 2015 nach 21 Jahren aufgelöst. Das ICTR und das Jugoslawien-Tribunal (ICTY), das seit 1993 existierte, waren seit den Nürnberger und Tokioter Prozessen die ersten internationalen Gerichte zur Verfolgung von Kriegsverbrechern.

Das ICTR hatte 93 Personen angeklagt. Das Ruanda-Tribunal war 1998 das erste internationale Strafgericht, das einen Angeklagten wegen Völkermord verurteilte. Ein ruandischer Bürgermeister wurde wegen Anstachelung zu systematischer Vergewaltigung von Tutsi-Frauen des Völkermordes für schuldig gesprochen.

Frau aus Ruanda mit ihrem Kind
Reuters/Ulli Michel
Eine Frau bricht mit ihrem Baby am Rücken vor einem Flüchtlingslager zusammen, 1994

Insgesamt kam es zu 61 Schuldsprüchen. Unter den Verurteilten waren Militärchefs, Lokalpolitiker, Verwaltungschefs und Journalisten, die zum Beispiel übers Radio zum Morden angestiftet hatten. In den Dörfern wurde zudem versucht, in traditionellen Gerichten, den Gacacas, Recht zu sprechen. Diese Gerichte hätten jedoch nicht wirklich zur Versöhnung der Volksgruppen beigetragen, so die Kritik von Menschenrechtsorganisationen.

Auseinandersetzungen zwischen Gericht und Regierung

1999 ernannte der UNO-Sicherheitsrat die Schweizer Juristin und Diplomatin Carla Del Ponte zur Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und für den Völkermord in Ruanda. Zwischen der ruandischen Regierung und Carla Del Ponte kam es jedoch wiederholt zu Auseinandersetzungen, als diese gegen Angehörige der FPR ermitteln wollte.

Nicht nur die ruandische Regierung wehrte sich gegen die Vorwürfe Del Pontes, im UNO-Sicherheitsrat machten sich auch die USA und Großbritannien gegen sie stark. Im August 2003 wurde Del Ponte durch den gambischen Richter Hassan Bubacar Jallow ersetzt.

Ermittlungen in Frankreich eingestellt

Auch in anderen Staaten kam es zu Ermittlungen. Heftige Vorwürfe gegen die FPR wurden von einem französischen Juristenteam unter Leitung von Richter Jean-Louis Bruguiere erhoben: Sie beschuldigten Kagame, 1994 den Befehl zum Abschuss des Flugzeugs des damaligen Präsidenten Habyarimana gegeben zu haben. Zudem wurden sieben Vertraute des Präsidenten angeklagt. Die Ermittlungen in Frankreich waren 1998 aufgenommen worden, da bei dem Angriff auch der französische Pilot der Maschine ums Leben kam.

Eine ruandische Kommission kam 2009 zum Schluss, dass Hutu-Extremisten für den Anschlag auf Habyarimana verantwortlich waren. Die Regierung in Kigali wirft Frankreich ihrerseits vor, ruandische Armeeeinheiten ausgebildet zu haben, die sich später am Völkermord beteiligten. Ende 2018 stellte Frankreich die Ermittlungen ein, da die Beweise unzureichend gewesen seien.

Kämpfer der Patriotischen Front Ruanda zeigt seine Waffe, 1994
Reuters/Corinne Dufka
Ein Kämpfer der Patriotischen Front Ruanda zeigt seine Waffe, 1994

Nach wie vor Massengräber entdeckt

In dem ostafrikanischen Land werden nach wie vor Massengräber entdeckt. Erst im September vergangenen Jahres haben die Behörden etwa neue Gräber mit den sterblichen Überresten von rund 5.400 Menschen entdeckt. Die Gebeine wurden in einem Stadtviertel der Hauptstadt Kigali in 26 Massengräbern entdeckt, nachdem ein Mann, der zur Zeit des Massakers im Jahr 1994 noch ein Kind war, die Behörden verständigte, erklärte Naphtal Ahishakiye, der Leiter der Organisation für Überlebende des Völkermordes.

Ahishakiye forderte alle Ruander auf, die Behörden zu informieren, falls sie Informationen zu möglichen weiteren Massengräbern hätten. Viele Ruander finden es enttäuschend, dass Anrainer weiter versuchen, diese zu verheimlichen. Ahishakiye sagte, es sei bestürzend, festzustellen, wenn auf Massengräbern Häuser gebaut wurden und die Bewohner Bescheid wüssten.

Im März 2017 hatte sich Papst Franziskus für die Rolle der katholischen Kirche beim Völkermord in Ruanda entschuldigt. Bei einem Besuch Kagames in Rom bat der Papst um Gottes Vergebung für die „Sünden und Fehler der Kirche“. Diese hätten „das Gesicht der Kirche entstellt“. Nach dem Genozid flossen Milliarden nach Ruanda.

Ruanda als Vorzeigeland und „Scheindemokratie“ zugleich

Kagame schaffte nach dem Ende des Völkermords die ethnischen Kategorien Hutu, Tutsi und Twa (Jäger und Sammler) ab. Alle haben sich als Ruander zu bezeichnen. Kritiker sagen, dass jedoch bis heute jeder wisse, wer zu welchem Stamm gehöre. Zudem hatte sich Kagame 2015 in einem Referendum – ebenfalls mit überwältigender Mehrheit – die Zustimmung der Bevölkerung für weitere Amtszeiten gesichert. Theoretisch könnte er Ruanda über seine dritte Amtszeit hinaus bis zum Jahr 2034 regieren.

Ruanda gilt mittlerweile als afrikanisches Vorzeigeland – etwa was die Gleichberechtigung betrifft. Laut Weltwirtschaftsforum liegt Ruanda in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter auf Platz fünf. Von der Politik bis in die Wirtschaft sind Frauen in Führungspositionen zu finden. Als ein Grund wird oft der hohe Frauenanteil an der Bevölkerung genannt, weil 1994 mehr Männer getötet wurden. Allerdings wurden in den Jahren danach auch Frauenquoten eingeführt und Förderprogramme gestartet.

Ruandas Präsident Paul Kagame
APA/AFP/Simon Maina
Kagame, als er 2014 eine Rede bei der Gedenkfeier zum 20. Jahrestag des Genozids hielt

Der Präsident führt das Land zudem wie eine Armee, sagen Bewunderer und Kritiker zugleich. Er sorgte für Stabilität und ein Wirtschaftswachstum von rund sieben Prozent. Wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs, der guten Infrastruktur, der sauberen Straßen und Recht und Ordnung in Ruanda genießt er große Popularität in der Bevölkerung.

Doch dafür wird ein hoher Preis gezahlt: Meinungsfreiheit, Oppositionsarbeit und die Zivilgesellschaft sind stark eingeschränkt, wie etwa Human Rights Watch kritisiert. Die Behörden würden Kritiker belästigen, unrechtmäßig festnehmen, sogar foltern. Nicht selten bezeichnen Kritiker das Land daher als „Scheindemokratie“.

Beliebt bei ausländischen Investoren

Die Armutsrate konnte in den vergangenen Jahren zwar gesenkt werden, von den heute zwölf Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen leben aber nach wie vor knapp 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Viele Menschen in ländlichen Gebieten haben keinen eigenen Wasseranschluss, nur 20 Prozent der Gesamtbevölkerung haben Zugang zur Stromversorgung, in manchen Regionen hungern die Menschen.

Bei ausländischen Investoren ist Ruanda im Vergleich zu vielen anderen afrikanischen Ländern dennoch beliebt. Laut Weltbank und „Ibrahim Index of African Governance“ ist Ruanda einer der besten Plätze für Investoren weltweit. Dieses Potenzial will sich auch Österreich zunutze machen. Die Regierung versucht, mit Hilfe eines Investitionsgarantiefonds, dessen Errichtung von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Ende vergangenen Jahres bekanntgegeben wurde, heimische Investoren auf den afrikanischen Markt zu locken.