Britisches Parlament
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313 zu 312 Stimmen

Unterhaus stimmt für Brexit-Verschiebung

Nach einem ersten, laut Regierung „konstruktiven“ Gespräch zwischen Premierministerin Theresa May und Oppositions- und Labour-Chef Jeremy Corbyn zur Lösung der Brexit-Krise hat das Unterhaus in der Nacht auf Donnerstag für ein Gesetz gestimmt, das die Regierung zu einer Verschiebung des Brexits über den 12. April hinaus verpflichtet.

Der Gesetzesvorschlag durchlief an nur einem Tag alle drei Lesungen im Unterhaus. Er wurde in dritter Lesung mit 313 zu 312 Stimmen angenommen. Sollte das Gesetz rechtzeitig in Kraft treten, könnten die Abgeordneten einen längeren Brexit-Aufschub mit Teilnahme an der EU-Wahl gegen den Willen der Regierung anordnen. Das Gesetz, das einen harten Brexit verhindern soll, wird am Donnerstag dem britischen Oberhaus vorgelegt.

Die Regierung reagierte verärgert auf die Abstimmung. „Wir sind enttäuscht, dass die Abgeordneten dieses Gesetz unterstützt haben“, sagte ein Regierungssprecher. May habe bereits dargelegt, wie Großbritannien die EU mit einem Austrittsabkommen verlassen könne – und angekündigt, sich für einen weiteren Brexit-Aufschub einzusetzen. Das Gesetz würde die Verhandlungsmöglichkeiten der Regierung stark einschränken, sagte der Sprecher.

Hammond: Zweites Brexit-Referendum in Betracht ziehen

May hatte bereits am Dienstag angekündigt, die EU um einen weiteren Aufschub des Brexits über den 12. April hinaus zu bitten. Finanzminister Philip Hammond sprach sich indes dafür aus, eine zweite Volksabstimmung über den EU-Austritt in Betracht zu ziehen. Das sagte Hammond am Mittwochabend in einem Interview mit dem britischen TV-Sender ITV. Ein Referendum zur Bestätigung der Bedingungen des EU-Austritts sei „ein vollkommen glaubwürdiger Vorschlag“ und verdiene es, im Parlament getestet zu werden, sagte Hammond.

„Konstruktive Gespräche“ zwischen May und Corbyn

Im verfahrenen Streit hatte May am Mittwochabend Oppositionsführer Jeremy Corbyn zu einem Gespräch getroffen, um nach einem Ausweg aus der Sackgasse zu suchen. Beide Seiten bezeichneten das Treffen als „konstruktiv“. Die Gespräche sollen am Donnerstag fortgesetzt werden – zumindest war das der Planungsstand vor dem jüngsten Parlamentsbeschluss. Allerdings fordert Labour eine Zollunion mit der EU, was viele Konservative strikt ablehnen.

Jeremy Corbyn vor seinem Haus, umgeben von Journalisten
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Brexit: Oppositionschef Corbyn und Regierungschefin May vereinbarten ein Arbeitsprogramm für weitere Gespräche

Beim Treffen sei ein Arbeitsprogramm zusammengestellt worden, anhand dessen die beiden Seiten nun „den Spielraum für eine Einigung“ erörtern könnten. Ähnlich äußerte sich auch ein Regierungssprecher: „Beide Seiten haben Flexibilität und Engagement gezeigt, die gegenwärtige Brexit-Unsicherheit zu einem Ende zu bringen.“ Für die weiteren Gespräche sollten zwei Verhandlungsteams gebildet werden. Auf Regierungsseite gehören nach Angaben der Downing Street Vizepremier David Lidington und Brexit-Minister Steve Barclay dazu.

Corbyn zurückhaltend

Corbyn selbst gab sich weniger optimistisch als der Labour-Sprecher. Das zweistündige Gespräch mit May beschrieb er als nützlich, aber ergebnislos. Beide Seiten hätten zunächst nur ihre gegenwärtigen Positionen dargelegt. Es gebe noch sehr viel, das beredet werden müsse. Der Labour-Chef warf May zudem mangelndes Entgegenkommen vor: „Es hat sich nicht so viel verändert wie ich erwartet hatte.“

Hintergrund: In seiner eigenen Partei steht Corbyn unter starkem Druck. Die Sozialisten sind in Sachen Brexit ebenso zerrissen wie die Torys. Teile machen sich für ein zweites Referendum stark, Teile sind komplett dagegen. Der proeuropäische Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw hatte Corbyn eindringlich vor Verhandlungen mit May gewarnt: „Das ist ganz klar eine Falle, mit der versucht werden soll, Mays schrecklichen Deal durchzubringen“, schrieb er auf Twitter: „Einige Leute sind darauf reingefallen, aber Labour darf das nicht.“

Rumoren bei den Torys

In Mays Partei, den konservativen Torys, sorgte die Ankündigung Mays über eine weitere Fristverlängerung indes für Entsetzen. Brexit-Staatssekretär Chris Heaton-Harris gab am Mittwoch seinen Rücktritt aus der Regierung bekannt. Er könne keine weitere Verlängerung der Brexit-Frist mittragen, schrieb er in einem Brief an May. Heaton-Harris hatte als Parlamentarischer Staatssekretär Brexit-Minister Stephen Barclay unterstützt.

Heaton-Harris war in der Regierung für die Vorbereitungen auf einen ungeordneten Brexit ohne Austrittsabkommen zuständig. Es war nicht der einzige Rücktritt an diesem Tag: Zuvor hatte bereits der für Wales zuständige Staatssekretär Nigel Adams aus Protest gegen Mays Brexit-Kurs sein Amt niedergelegt.

Offenbar, so Adams, hielten es May und ihr Kabinett für besser, einen Deal mit „einem Marxisten auszuhecken, der kein einziges Mal in seinem politischen Leben die britischen Interessen an erste Stelle gesetzt hat“, als kein Abkommen zu schließen. Auch der Tory-Abgeordnete und Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg zeigte sich entsetzt über Mays Zugehen auf den „Marxisten“ Corbyn. Sein Parteikollege Marcus Fysh sagte: „May hat erneut bewiesen, dass sie sich auf dem falschen Weg befindet. Vor uns liegt eine große Zukunft, aber es braucht Mut und Entschlossenheit, nicht Angst und Zaudern.“

Die schottischen Nationalisten kündigten indes im Unterhaus an, einen Antrag für ein Referendum einzubringen. Die Bevölkerung müsse abstimmen, heißt es zur Begründung. Ein Ausstieg Großbritanniens ohne Abkommen müsse zudem endgültig vom Tisch.

Chaotischer Brexit am 12. April droht

Ursprünglich hätte Großbritannien bereits am 29. März austreten sollen. Dann wurde praktisch in letzter Minute von der EU eine Verlängerung erreicht, wobei dabei zwei Daten genannt wurden: der 12. April für den Fall, dass bis dahin kein Vertrag zustande gekommen ist – das wäre der von allen Seiten befürchtete chaotische Brexit. Oder eben der 22. Mai, wenn sich die Briten doch noch einigen und dann Zeit erhalten, um die legistische Umsetzung vollenden zu können.

Juncker geht von „No Deal“ aus

Auch auf EU-Seite war die Freude über Mays neuerlichen Verlängerungswunsch überschaubar. Großteils herrschte Skepsis bis Zurückhaltung, weil angesichts der bisherigen Performance der Briten kaum irgendeine Richtung absehbar war. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) etwa kann überhaupt keinen Grund für eine Fristerstreckung ausmachen – das Chaos in Großbritannien habe sich nicht verändert. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker plädierte im Europaparlament am Mittwoch zwar für eine Verschiebung des Brexits auf den 22. Mai, falls das britische Unterhaus dem Austrittsabkommen in den nächsten Tagen doch noch zustimmt.

Andernfalls sei keine weitere Verlängerung über den 12. April hinaus möglich. „Der ‚No Deal‘ ist ein Szenario, das im Moment immer wahrscheinlicher erscheint“, sagte Juncker. Er betonte, die EU sei offen für Verhandlungen über eine Zollunion oder ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien. Das sei aber erst möglich, sobald das Austrittsabkommen unterzeichnet sei, „die Tinte muss nicht einmal trocken sein“.

Die EU-Kommission rief Großbritanniens Regierung und Opposition zu einer Einigung auf. „Es wäre außerordentlich wichtig, dass sich Theresa May und Jeremy Corbyn über die Grundsätze der künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien einigen und der Austrittsvertrag endlich verabschiedet wird im britischen Unterhaus“, sagte der Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, der Zeitung „Welt“.