Truppen von General Khalifa Haftar
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Marsch auf Tripolis

„Wenig Raum für Deeskalation“ in Libyen

Der Machtkampf in Libyen droht zu eskalieren. Gewaltsame Auseinandersetzungen in den Randbezirken der Hauptstadt Tripolis verschärften sich am Samstag, auch Luftangriffe auf Rebellentruppen wurden gemeldet. Sowohl der UNO-Sicherheitsrat als auch die Außenminister der G-7-Staaten forderten nach ihrem Treffen den libyschen Rebellenkommandeurs Chalifa Haftar auf, „alle militärischen Bewegungen zu beenden“.

Libyen gilt als wichtiges Transitland für Flüchtlinge, die Europa erreichen wollen. Der abtrünnige General Haftar hatte seine selbst ernannte Libysche Nationale Armee (LNA) zum Marsch auf Tripolis aufgefordert. Eigenen Angaben zufolge erreichten sie am Freitag die südlichen Außenbezirke von Tripolis. Dabei wurden die Truppen laut LNA von Kampfflugzeugen angegriffen. Auch bei Gefechten südlich von Tripolis versuchten Haftars Gegner offenbar, dessen Nachschubwege abzuschneiden.

Berichten, dass Haftars Truppen den früheren internationalen Flughafen unter Kontrolle gebracht hätten, widersprachen die Vertreter der international anerkannten Regierung in Tripolis, berichtete der arabische Sender Al-Jazeera. Die Regierung in Tripolis zog aber ebenfalls Truppen zusammen und rief ihr nahestehende Milizen zur Unterstützung auf.

„Verlasse Libyen tief besorgt“

Trotz der Eskalation will die UNO an der für Mitte April geplanten Versöhnungskonferenz festhalten. Zur Vorbereitung war UNO-Generalsekretär Antonio Guterres Ende vergangener Woche nach Libyen gereist. Er rief zu einem Ende aller Truppenbewegungen und zur Deeskalation auf. „Es gibt in Libyen keine militärische Lösung. Die Lösung muss politisch sein.“ In der ostlibyschen Stadt Bengasi hatte Guterres auch Haftar getroffen. Danach twitterte er, dass er Libyen „schweren Herzens und tief besorgt“ verlasse.

Der Libyen-Experte des Washingtoner Thinktanks Middle East Institute, Emad Badi, sieht angesichts dessen derzeit „wenig Raum für Deeskalation“ in Libyen. Sollte sich Haftar nicht zurückziehen, „wird es für einige Zeit einen offenen Konflikt geben“, sagte Badi gegenüber Al-Jazeera. Erst im Februar habe Haftar dem von der UNO vermittelten Plan, Wahlen abzuhalten, zugestimmt, ergänzte Jalel Harchaoui vom niederländischen Clingendael Institute. Diese Zusage habe er gemacht, um mehr Zeit für seine lang angekündigte Offensive auf Tripolis zu haben.

General Khalifa Haftar und UN-Generalsekretär Antonio Guterres
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UNO-Generalsekretär Guterres (re.) traf am Freitag mit General Haftar in Bengasi zusammen

„Krieg ohne Gewinner“

Der 75-jährige Haftar setzt bei seinen Eroberungen auf seine jahrelange Erfolgsstrategie. In dem nordafrikanischen Land herrscht seit dem Sturz von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 ein Bürgerkriegschaos. Haftar rückte in den vergangenen Monaten weiter vor und konnte große Gebiete einnehmen.

Der General konkurriert mit der international anerkannten Regierung unter Premier Fajis al-Sarradsch. Deren Einfluss reicht allerdings kaum über Tripolis hinaus. „Die Masse der Bevölkerung hat einfach genug von dem jahrelangen Chaos im Land“, so Wolfgang Pusztai im Interview mit ORF.at. Der ehemalige Verteidigungsattache Pusztai ist Sicherheitsexperte mit Fokus auf Libyen.

Sarradsch warnte nun am Samstag vor einem „Krieg ohne Gewinner“. Er warf dem abtrünnigen General in einer Fernsehansprache „Verrat“ vor: „Wir haben unsere Hände dem Frieden entgegengestreckt, aber nach der Aggression, die es von den zu Haftar gehörenden Truppen gab, und nach seiner Kriegserklärung gegen unsere Städte und unsere Hauptstadt (…) kann er nur auf Gewalt und Entschlossenheit treffen.“

Wer das Öl kontrolliert, kontrolliert das Land

Seit Anfang des Jahres konnte Haftar seine Machtposition rasant ausbauen. Seine Truppen waren in den vergangenen Monaten von Osten bis an die Grenze zu Algerien im Westen Libyens vorgerückt. Wer das Öl kontrolliert, kontrolliert das Land. Im Februar gelang Haftar die Einnahme der wichtigen Ölfelder Scharara und Fil und dadurch der Zugriff auch auf wichtige Ressourcen. Beide Ölfelder können täglich rund 400.000 Barrel Rohöl fördern.

Truppen von General Khalifa Haftar
APA/AFP/Abdullah Doma
Soldaten der selbst ernannten LNA unter Haftars Kommando im vergangenen Jahr bei einer Militärparade in Bengasi

Zuvor, 2016, hatte die LNA bereits die Ölanlagen im Osten unter ihre Kontrolle gebracht. Bei den zuletzt eroberten Ölfeldern ging Haftar wie bereits erprobt vor. Er nahm die lokalen Milizen in seine LNA hinein, gab ihnen Uniformen und vor allem ein Gehalt, so „Foreign Policy“. Teils wurden sie gleich wieder zum Schutz der Ölfelder abkommandiert, so „Foreign Policy“.

„Von Bevölkerung begrüßt“

„Besonders wichtig war, dass brutale Übergriffe der Armee nahezu völlig ausgeblieben sind. Insgesamt konnte die LNA ihr Image durch ihr erfolgreiches Eingreifen im Süden auch weiter im Norden deutlich verbessern“, so Pusztai. Laut dem Experten bricht Haftar allerdings jeden Widerstand mit voller Härte. Doch „in die meisten Städte konnte die LNA ohne Widerstand einrücken und wurde sogar von der Bevölkerung begrüßt“.

Die international anerkannte Einheitsregierung habe es hingegen in mehr als drei Jahren nicht einmal geschafft, ihre Hauptstadt unter Kontrolle zu bekommen, geschweige denn die Wirtschaft des Landes trotz gestiegener Öleinnahmen anzukurbeln, so Pusztai. Daher sei es verständlich, dass nunmehr doch eine erhebliche Anzahl an Libyern und Libyerinnen die Hoffnungen auf Haftar setzten.

Libyscher Premier Fajis al-Sarradsch mit Militär
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Der Premier der international anerkannten Regierung, al-Sarradsch, im Gespräch mit Militärs nach Kämpfen mit Haftars Truppen

„Allerdings darf man nicht vergessen, dass er auch viele erbitterte Feinde hat, vor allem unter den Islamisten, gegen die er im Osten des Landes zum Teil auch sehr brutal vorgegangen ist, um sie aus ihren Hochburgen zu vertreiben“, so Pusztai. Diese Hochburgen wurden laut dem Experten auch von diversen Terrorgruppen wie al-Kaida und Islamischer Staat (IS) genutzt.

„Säuberungsaktion“ als Medienkampagne

Haftar startete mit seinen Eroberungen auch eine Medienkampagne zur Rechtfertigung seines Vorgehens. So seien seine Aktionen gegen „fremde Mächte und Islamisten“ gerichtet, die aus dem Land vertrieben werden sollen. Eine „Säuberungsaktion“ von Extremisten ist auch die Diktion für den Marschbefehl auf die Hauptstadt Tripolis, wie „Foreign Policy“ schreibt. Haftar weiß sein Vorgehen auch gedeckt. Unterstützt wird er von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Russland. In seiner LNA sind auch ausländische Kämpfer aktiv.

Eigene Währung von Moskau gestützt

Begleitet wird der Aufstieg Haftars seit Jahren von Russland. Mit der Hilfe Moskaus wurde eine Parallelwährung in den Gebieten unter Haftars Kontrolle eingeführt. Diese Hilfe aus Russland hielt Haftar und seine Armee seit Jahren aus allen finanziellen Problemen heraus und sorgte für Liquidität.

Neben der Währung verteilte Haftar auch Mehl, Benzin und Gas an die durch den Bürgerkrieg verarmte Bevölkerung, um seine Popularität zu steigern und Rückhalt zu bekommen. Die Botschaft nach außen ist klar: Haftar kann für „seine“ Bevölkerung sorgen, so „Foreign Policy“. Doch angesichts der aktuellen Eskalation forderte selbst Moskau einen „nationalen Dialog“ in Libyen.

Hoffen auf internationale Anerkennung

Bei all seinen Erfolgen hat es Haftar allerdings versäumt, die Gebietsgewinne politisch umzumünzen und sich zum internationalen politischen Ansprechpartner mit Hoffnung auf eine anerkannte Regierung zu machen. So scheiterte 2018 sein Versuch, Öl aus den Quellen in seinem Machtbereich direkt auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Der Verkauf läuft immer noch via Tripolis. Deshalb versuchte Haftar auch, anerkannte Politiker in Tripolis und auch international auf seine Seite zu ziehen und so seine Macht zu konsolidieren.

General Khalifa Haftar
APA/AFP/Abdullah Doma
Der abtrünnige libysche General Chalifa Haftar bei einer Rede im Februar

Es werde vor allem von seinem Verhalten und seiner weiteren Vorgangsweise abhängen, wie rasch sich das Gros der internationalen Gemeinschaft mit ihm „arrangiere“, so Pustzai. „Länder wie Italien können es sich dauerhaft sicher nicht leisten, mit dem Machthaber von Libyen im Streit zu liegen. Dafür sind die Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen einfach viel zu groß“, so der Experte. Anders liege die Lage bei Ländern wie der Türkei und Katar, die schon seit der Revolution diverse islamistische politische Gruppen und Milizen unterstützten. Diese würden sich jedenfalls bemühen, Haftar das Leben schwerzumachen, so Pusztai.

Wichtiges Transitland für Flüchtlinge

Die Entwicklungen in Libyen haben auch Auswirkungen auf Europa: Libyen hat sich zu einem der wichtigsten Transitländer von Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Europa entwickelt. Von der libyschen Mittelmeer-Küste legen immer wieder Boote mit Flüchtlingen ab. Die EU hatte Ende März erklärt, sie beende ihren Marineeinsatz vor Libyens Küste, mit dem Schlepper gestoppt werden sollen. Die Mitgliedsstaaten konnten sich nicht auf ein System zur Verteilung geretteter Geflüchteter einigen. NGOs und EU-Politikerinnen, die sich teils an Ort und Stelle ein Bild gemacht hatten, berichteten mehrmals über Gräueltaten in den libyschen Flüchtlingslagern.