Israelischer Ex-General Benny Gantz
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Israel wählt

Der Mann, der Netanjahu schlagen dürfte

6,3 Millionen Israelis sind am Dienstag aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Die 21. Knesset und die künftige Regierung könnten für das Land und die Region richtungsentscheidend sein. Der Wahlsieger wird am späten Abend wohl feststehen – wer die nächste Regierung bildet, aber nicht. Das hängt nicht von den zwei Großparteien ab, sondern von den Kleinparteien – und, ähnlich wie in Österreich, vom Präsidenten.

Das Match um Platz eins liefern einander die rechtskonservative Likud-Partei von Regierungschef Benjamin „Bibi“ Netanjahu und die Liste Kachol-Lavan (Blau-Weiß) des Newcomers und Ex-Generals Benjamin „Benni“ Ganz. Ganz ist erst seit wenigen Wochen in der Politik. Trotzdem dürfte er Netanjahu, der mittlerweile der längstdienende Ministerpräsident Israels ist und demnächst wegen Korruption angeklagt werden dürfte, schlagen. Letzte Umfragen sahen den Likud zumindest etwa drei Mandate hinter Kachol-Lavan.

Bis zum frühen Nachmittag hatte mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Der Wert liegt leicht unter jenem von 2015. Die Wahlbeteiligung dürfte den Ausschlag geben, wer Erster wird. Besonders stark war die Wahlzurückhaltung bei den arabischen Israelis. Das begünstigt Netanjahu.

Werben mit Annexionsansage

Heftig geriet das Finale des ohnehin durch schwere gegenseitige Skandalvorwürfe dominierten Wahlkampfs. Netanjahu versuchte am Wochenende sogar mit dem Versprechen, alle jüdischen Siedlungen im Westjordanland zu annektieren, Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Ganz, der vor allem die politische Mitte anzusprechen versucht, sprach von einem „verantwortungslosen“ Versuch, Wählerstimmen zu werben. Es sei eine Schande, „mit Menschen so zu spielen“, und er sprach sich selbst gegen einseitige Schritte aus. Neben Fragen der Sicherheit und des Umgangs mit den besetzten Gebieten und dem israelisch-palästinensischen Konflikt spielten inhaltliche Themen allerdings eine sehr untergeordnete Rolle. Vielmehr dominierten wahltaktische Überlegungen.

Israelischer Premier Benjamin Netanjahu
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Bis zuletzt wurde um Stimmen geworben – hier Netanjahu am Montag in Jerusalems Markt und Ausgehmeile Mahane Jehudah

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Egal, ob Ganz oder Netanjahu die meisten Stimmen erhalten – zumindest für Staatspräsident Reuven Rivlin gilt: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Wie in Österreich kann der Präsident auch in Israel nominell frei entscheiden, wem er den Regierungsbildungsauftrag erteilt. Rivlin kommt von Netanjahus Likud, ist allerdings auf diesen nicht allzu gut zu sprechen.

Erwartet wird, dass Rivlin zunächst mit allen in der künftigen Knesset vertretenen Parteien sprechen wird, bevor er entscheidet. In Rivlins Ermessen liegt es, wem er den Regierungsbildungsauftrag erteilt: dem stimmenstärksten Kandidaten oder jenem, der von den Kleinparteien die meiste Unterstützung erhält – und somit die besseren Aussichten auf erfolgreiche Koalitionsverhandlungen hat. 61 Abgeordnete sind das Minimum für eine Mehrheit in der 120 Sitze umfassenden Knesset.

Roland Adrowitzer zur Parlamentswahl in Israel

ORF-Korrespondenten Roland Adrowitzer berichtet aus Tel Aviv: Von einem sehr knappen Rennen ist die Rede, die Wahlbeteiligung wird eine große Rolle spielen.

Netanjahu setzt rechte Partner unter Druck

Während Ganz’ Lager darauf besteht, der stimmenstärkste müsse den Auftrag erhalten, forderte Netanjahu zuletzt, Rivlin müsse jenen beauftragen, der von den anderen Parteien mehr Unterstützung erhalte. Das geschah bisher nur ein Mal. Entsprechend übte der Likud-Chef zuletzt Druck auf die kleineren Parteien des rechten Lagers aus. Er warf ihnen vor, sich nicht klar zu einer Koalition mit dem Likud und ihm, Netanjahu, zu bekennen. Das, so das Kalkül, könnte rechte Wähler dazu bewegen, lieber doch für die sichere Variante, also Likud, zu stimmen – oder Rechtsparteien wie Moshe Feiglins Liste Sehut (Identität) und die neu gegründete Partei HaJamin haChadasch (Die neue Rechte) von Bildungsminister Naftali Bennet und Justizministerin Ayelet Schaked dazu drängen, sich eindeutig festzulegen.

Die anderen Parteien warfen Netanjahu daraufhin prompt vor, Panik zu verbreiten. Sie betonten ihrerseits, nur Stimmen für sie würden garantieren, dass Netanjahu seine Versprechen – etwa für Siedler – auch einhalte.

41 Parteien treten an

41 Listen und Parteien treten an. 13 haben laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in die Knesset. Neugründungen und wechselnde Allianzen sind ganz üblich. Der politische Tonfall ist traditionell um einiges lebendiger als in Europa.

Werben mit Cannabis

Grundsätzlich ist klar, dass alle Parteien rechts vom Likud für Netanjahu als nächsten Regierungschef sind. Vor allem der sicherheitspolitisch weit rechts stehende Feiglin, der zugleich ein radikaler Wirtschaftsliberaler ist und mit dem Versprechen der Cannabis-Legalisierung bei urbanen Jungen fischen will, hält sich aber alle Optionen offen. Er könnte sechs Mandate erobern. Historisch häufig das Zünglein an der Waage waren die religiösen Parteien. Auch wenn sie sich recht deutlich auf Netanjahus Seite positionieren – vor die Entscheidung gestellt, ob sie in der Regierung bleiben oder in Opposition gehen müssen, ist ein Wechsel zu Ganz durchaus möglich.

Genau weil Ganz und seine Blau-Weiß-Allianz auf religiöse Parteien als Mehrheitsbringer angewiesen sein werden, vertrat Ganz etwa gesellschaftspolitisch im Wahlkampf gemäßigte Positionen.

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Israelischer Finanzminister Moshe Kahlon
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Benni Ganz’ Partei Chosen LeJsrael (Widerstandskraft für Israel) und Jair Lapids Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft) gründeten die Allianz Kachol-Lavan. Lapid galt bis zu Ganz’ Eintritt in die Politik als größter, aber aussichtsloser Herausforderer Netanjahus. Gemeinsam lagen sie in den meisten Umfragen vor Netanjahus Likud.
Ex-Generalstabschef Benny Gantz
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Der politische Neuling Ganz konnte binnen Wochen mit Netanjahu gleichziehen. Neben dem Bündnis mit Lapid holte sich der Ex-Militärchef zwei weitere frühere Generalstabschefs in sein Team. Seine Partei wird daher meist einfach „Die Partei der Generäle“ genannt.
Der Chef der israelischen Arbeitspartei, Avi Gabbay
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Avi Gabbai und seine Arbeitspartei kämpfen gegen den drohenden Absturz auf eine Nebenrolle. Einige Mandate dürften zu Ganz wandern – trotzdem bleibt Gabbai nichts anderes übrig, als auf Ganz’ Erfolg zu hoffen und damit auf eine eventuelle Koalitionsbeteiligung.
Israelischer Finanzminister Moshe Kahlon
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Tamar Sandberg führt Meretz, ein linksliberales Parteienbündnis mit grünem Einschlag, an. Meretz gilt – im Falle des Falles – so wie die Arbeitspartei als fixer Koalitionspartner für Ganz.
Israelischer Finanzminister Moshe Kahlon
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Der aus Russland eingewanderte Avigdor Lieberman war jahrelang einer der zentralen innenpolitischen Player in Israel. Nun muss er um den Wiedereinzug bangen.
Ein riesiges Plakat in Tel Aviv (Israel) mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und US-Präsident Donald Trump
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US-Präsident Donald Trump ist der beste und wichtigste Freund von Premier Netanjahu. Und die Botschaft des Plakats ist klar: „Netanjahu. Eine andere Liga. Der Likud“.
Israelischer Finanzminister Moshe Kahlon
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Finanzminister Mosche Kachlon hat sich bereits vor Jahren vom Likud abgespalten und Kulanu (Wir alle) gegründet. Kachlon ist ein Zentrumspolitiker mit starker Betonung auf Sozialpolitik. Er könnte sowohl mit Netanjahu als auch mit Ganz koalieren.
Der Chef der Zehut-Partei, Moshe Feiglin
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Die Überraschung des bisherigen Wahlkampfs: Der Ex-Likudnik Mosche Feiglin kämpfte gegen die Oslo-Verträge und ist ein Libertärer. Für Aufsehen sorgt er, weil seine Partei die Legalisierung von Cannabis verspricht. Damit kann er auch bei Linksliberalen punkten. Koalitionstechnisch hält sich Feiglin alle Optionen offen.
Der israelische Erziehungsminister Naftali Bennett und Justizministerin Ayelet Shaked
Reuters/Corinna Kern
Ajelet Schaked und Naftali Bennett haben ihre eigene Partei und deren Schuldenberg kurzerhand verlassen und eine neue Partei gegründet. Sie wollen vor allem auch um säkulare, rechte Israelis werben – und für eine Beschränkung des Höchstgerichts. Zum jüdischen Faschingsfest Purim veröffentlichte Schaked ein Video, in dem sie den von Kritikern geäußerten Vorwurf des Faschismus aufnahm: Sie versprüht darin ein Parfum namens „Faschismus“ und sagt dabei: „Für mich riecht es wie Demokratie.“ Schaked und Bennett sind logische Koalitionspartner von Netanjahu.

Arabische Listen entscheidend

Für den Koalitionspoker nach der Wahl entscheidend wird auch das Abschneiden der arabischen Listen. Anders als beim letzten Mal treten sie nicht mit einer gemeinsamen Viererliste an. Die Liste Chadasch-Ta’al mit Aiman Odeh und Ahmad Tibi als Spitzenkandidaten dürfte sechs bis sieben Mandate erobern. Entscheidender ist aber, ob auch die zweite arabische Liste, Ra’am-Balad, es in die Knesset schafft. Abhängen wird das von der Wahlbeteiligung bei arabischen Israelis. Der Einzug von Ra’am-Balad würde jedenfalls weniger Mandate für das rechte Lager bedeuten – und somit den koalitionären Spielraum für Ganz vergrößern und umgekehrt für Netanjahu verkleinern.

Einer, der jahrelang die israelische Politik prägte, kämpft unterdessen ums politische Überleben: Avigdor Lieberman und seine vor allem russischstämmige, säkulare, Israelis ansprechende Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel) könnten an der 3,25-Prozent-Hürde scheitern. Dabei war es Lieberman, der mit seinem überraschenden Austritt aus der Regierung Ende des Vorjahrs die vorgezogenen Neuwahlen letztlich vom Zaun brach.

Premiere droht

Wird Benjamin Netanjahu erneut Regierungschef, droht eine Premiere: Erstmals könnte ein amtierender israelischer Ministerpräsident angeklagt werden.

Die Regierungsbildung könnte zu einem längeren Poker werden. Die Wahl ist eine Richtungswahl, auch wenn beide Seiten – Netanjahu wie Ganz – viele Detailfragen unbeantwortet ließen. Aber Ganz präsentierte sich ganz bewusst als Gegenentwurf zu Netanjahu. Versöhnen statt spalten, so lautet Ganz’ Botschaft an alle, die nach – mit Unterbrechung – 13 Jahren Netanjahu-müde sind.

Egal ob Netanjahu oder Ganz – der künftige Regierungschef dürfte jedenfalls bald vor einer neuen Herausforderung stehen: Es wird erwartet, dass US-Präsident Donald Trump bald nach der Wahl seinen vor mehr als zwei Jahren groß angekündigten Friedensplan für die Beilegung des Nahost-Konflikts vorstellen wird.