Bühnenbild zu „Woyzeck“ im Akademietheater
Reinhard Werner/Burgtheater
Manege frei im Akademietheater

Woyzeck und die wilden Tiere

Georg Büchners Klassiker „Woyzeck“, inszeniert von Johan Simons, hat Mittwochabend am Wiener Akademietheater Premiere gefeiert. Wie ein Dompteur führte Simons die heiß-kalten Charaktere durch die Manege und hielt so die Faszination eines Dramas am Leben – das Publikum dankte es ihm mit Jubel und Beifall.

Wie auch Büchners Text, von dem keine finale Fassung existiert, bediente sich Simons, der „Woyzeck“ bereits zum dritten Mal inszeniert, einer fragmentarischen Spielwiese – für das Akademietheater soll es der Zirkus sein. Doch bereits zu Beginn des Stücks setzt der Verfall der Manege ein: ein Sinnbild für den zerbrechlichen, psychotischen Charakter Woyzecks.

Erst lässt Woyzeck das Zirkuszelt zum Einsturz bringen, dann bricht auch das Fundament durch sein Zutun zusammen. Doch will er damit nur Stärke demonstrieren? Obwohl auch Simons’ Woyzeck auf den ersten Blick ein Versager sondergleichen ist, ist er in seinem Denken dennoch genial. Diesen schauspielerischen Spagat schafft Steven Scharf in der Hauptrolle. 2017 war er für den Nestroy als bester Schauspieler nominiert.

Anna Drexler verzückt als Marie

Woyzecks philosophische Genialität zieht auch Marie an, gespielt von der herausragenden Nachwuchsschauspielerin Anna Drexler, die das Publikum als Springinkerl verzückt. Den Schein wahrend präsentiert sie das uneheliche Kind, das sie mit Woyzeck hat. Doch sie hegt auch Aggressionen gegen den Buben – im Stück ein Drahtgeflecht – und somit auch gegen Woyzeck. Trotzdem haben die beiden ein besonderes Band – er fordert sie intellektuell heraus, sie gibt ihm ein Gefühl der Leichtigkeit.

„Woyzeck“ im Akademietheater
Reinhard Maximilian Werner
Marie und der Tambourmajor beim Anbandeln

Doch das hält nicht lange an, bald schon kommt der Tambourmajor (Guy Clemens) angetrommelt. Clemens verleiht seinem Charakter einen ganz besonderen Touch, der irgendwo zwischen Stier und körperbewusstem Muskelmann liegt. „Was ein Mann, wie ein Baum“, stellt Marie fest. Der Tambourmajor wiederum stellt Marie als begehrenswertes Dressurpferd auf ein Podest. In der Manege wird es immer wilder, und bald schon geben sich die beiden der Ekstase hin. Marie ist schier begeistert von ihrem Flirt: „So ist keiner! Ich bin stolz vor all den Weibern.“

Vergebliche Suche nach der Tugend

Und Woyzeck? Der weiß nicht so recht, wo er steht, doch verfällt er zunehmend. Dazu trägt auch der Hauptmann (Daniel Jesch) bei, der sich gekonnt vom Trapez schaukelt. „Die Ewigkeit ist ein Augenblick“, belehrt er Woyzeck, seinen Untergebenen. „Woyzeck ist ein guter Mensch, aber er hat keine Moral.“ Woyzeck, die scharfen Worte kaum noch aushaltend, sucht im Zirkuspublikum wie verrückt nach seiner Tugend. Doch all das soll zu nichts führen. Wie aus Kübeln schüttet es auf ihn herab.

„Woyzeck“ im Akademietheater
Reinhard Maximilian Werner
Steven Scharf als Woyzeck – genial, aber ohne Tugend

„He, Marie!“, ruft Woyzeck der Mutter seines Kindes immer wieder zu. Marie fühlt sich zwar zu ihm hingezogen, doch hat sie auch Augen für den Tambourmajor – da kann sich Woyzeck sogar auf der Bühne splitterfasernackt ausziehen und sich noch so sehr zum Affen machen. Der Tambourmajor zerrt Woyzeck, als dieser schon geschwächt auf dem blutroten Boden liegt, sogar noch durch die Manege, doch der Verfall ist nicht mehr aufzuhalten.

Woyzeck, der Zirkusdirektor

Ein letztes Mal hat der mittellose Woyzeck noch die scheinbar zündende Idee und verkleidet sich als Zirkusdirektor. Er kauft sich ein Messer beim Doctor (Falk Rockstroh), der auch nicht viel von Woyzecks Lebenseinstellung hält. „Ein ökonomischer Tod“, sagt dieser und vermutet, Woyzeck wolle Selbstmord begehen.

Doch – und das wissen alle, die das Drama schon in der Schule gelesen haben – Woyzeck ersticht nicht sich selbst, sondern Marie – ausgerechnet jene Person, die ihn tief im Herzen doch liebt. Wie im Original wird Woyzeck durch Käthe (Martin Vischer) der Bluttat überführt. Noch einmal regnet es ins Zirkuszelt. Die Tiere marschieren ein letztes Mal auf. Ein Affe klatscht – und so auch das Premierenpublikum.

„Woyzeck“ im Akademietheater
Reinhard Maximilian Werner
Marie, der Bub und der Tabourmajor unterm Regenvorhang

Menschliche Abgründe, aber mit Humor

Wer die in Büchners Dramenfragment vorhandenen historisch-philosophischen Zusammenhänge sucht, wird in dieser Inszenierung kaum fündig, doch scheint das von Simons und Dramaturg Koen Tachelet geradezu gewollt. Bekannte „Woyzeck“-Zitate finden zwar ihren Platz, doch auf Komplexität wurde verzichtet. Stattdessen setzt man auf eine direkte Beziehung zwischen Publikum und Bühne. Scharf und Drexler überzeugten mit ihrer unverkennbaren Sprachmelodie und Mimik. Verstörend humorvoll bilden sie die menschlichen Abgründe in ihrer schauspielerischen Leistung ab. Das eine oder andere Schmunzeln kann sich kaum einer im Publikum verkneifen.

„Woyzeck“ im Wiener Akademietheater

Bis 2. Juni ist „Woyzeck“ im Akademietheater zu sehen. Weitere Termine sollen folgen.

Das perfekte Zusammenspiel der Farbkontraste in Bühnenbild (Stephane Laime) und Kostüm (Greta Goiris) ist ein Schauspiel für sich. Hinzu kommen Bühneneffekte wie der einsetzende Regen, der als Leinwand dient, und die mit Getöse herunterkrachenden Balken, die für die eine oder andere Überraschung in der Manege sorgen – und das tut „Woyzeck,“ einem der meistbearbeiteten Dramen der Theatergeschichte, sehr gut.