Die Schriftstellerin Sybille Berg
Verlag Kiepenheuer & Witsch/Katharina Lütscher
Totale Überwachung

Die Schreckensvision der Sibylle Berg

Ein Roman als echter Kracher: Sibylle Bergs Dystopie „GRM. Brainfuck“ lässt vier Kinder aus schwierigen Verhältnissen eine Neuauflage von Aldous Huxleys Klassiker „Schöne neue Welt“ erleben. Die totale Onlinevernetzung ist hier in eine Totalüberwachung gemündet, in der es Perspektiven nur für die Reichen gibt. Eine lohnende Quälerei.

„Das fucking Netz ist zur Leni Riefenstahl der Welt geworden“, heißt es in „GRM. Brainfuck“. Der Vergleich mutet auf den ersten Blick skurril an, geschrieben aber hat ihn eine, die es wissen muss: Berg zählt zu den Obsessivsten der Literaturszene, die sich im Internet präsentieren.

Auf Twitter hat die 1962 in Weimar geborene und in Zürich lebende Autorin über 80.000 Follower, die sie dort mit Alltäglichem oder Politischem rundum versorgt – etwa mit bissigen Kommentaren zu Men-only-Wirtschaftsmeetings („ich trage meist auch anzüge. vielleicht alles damen?“) oder auch mit Promotion für die deutsche Nachrichtenplattform Netzpolitik.org.

Die Schriftstellerin Sybille Berg
Verlag Kiepenheuer & Witsch/Katharina Lütscher
Sibylle Berg: Autorin, Intellektuelle, Social-Media-Phänomen

Gewiefte Beobachterin

Was nicht von ungefähr kommt: Berg ist nicht nur rund um die Uhr im Netz unterwegs, sondern auch eine gewiefte Beobachterin der voranschreitenden Digitalisierung und diverser gegenwärtiger Phänomene. Aus ihren mittlerweile 25 Theaterstücken und 14 Romanen weiß man, dass Berg für viel Böses und Spöttisches steht, für ein untrügerisches Gespür für menschliche Abgründe. Von beidem, Informiertheit und Unerbittlichkeit, gibt sie nun in ihrem neuen 640-Seiten-Wälzer mehr als eine Kostprobe.

Buchcover „GRM. Brainfuck“
Verlag Kiepenheuer & Witsch

Buchhinweis

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Kiepenheuer & Witsch, 640 Seiten, 25,70 Euro.

„GRM. Brainfuck“ ist ein Lehrstück darüber, wie Algorithmen die Macht über die Menschheit übernehmen, apokalyptisch, drastisch ausgefinkelt und ziemlich ungemütlich. Eine Dystopie, die mit in einer beunruhigenden Hellsichtigkeit darüber aufwartet, wie sich Digitalisierung und neoliberale Entsolidarisierung die Hand reichen.

An der Eskalationsschraube gedreht

Worum es kurz gesagt geht, ist die Welt, wie sie die Medien derzeit so beschäftigt: Brexit und Post-Brexit, Demokratieabbau und Sozialstaatsbeschneidung, die die Unter- und ehemalige Mittelschicht zusehends unter Druck geraten lässt, Rechtsruck und das Auseinanderdriften Europas, Handysucht und eben jene Algorithmen, die das Leben der Menschen umkrempeln. Es ist eine explosive Mischung also, die den Hintergrund einer „Schöne neue Welt“-Adaption bietet, wie Berg im ORF.at-Interview bestätigt. „Ja, vielleicht ist es ein Teil zwei“, meint sie schmunzelnd.

„GRM. Brainfuck“: Titelgebend ist hier Grime, eine am Beginn der 2000er Jahre entstandene englische Form des Hip Hop, die sich als Sprachrohr sozial Benachteiligter durch ihren rohen, düsteren, rhythmischen Sound auszeichnet – was auch Bergs eingängige Sprache gut beschreibt. Und da ist außerdem „Brainfuck“, die Überforderung unserer Gehirne, die Zumutung durch den dauernden Umgang mit Informationen, die der Roman in der Form antizipiert, indem er ohne Unterlass Perversionen und Perfidien immer höher treibt.

Autorin Sibylle Berg in „Willkommen Österreich“

Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat in „Willkommen Österreich“ über ihr aktuelles Buch „GRM – Brainfuck“ erzählt. Darin geht es um vier Kinder in Großbritannien, „die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates“.

„Deprimierendste Stadt des Königreiches“

Angesetzt ist Bergs Dystopie in Rochdale, einer 100.000-Einwohner-Stadt nahe Manchester, das man, so Berg, „ausstopfen und als Warnung vor unmotivierter Bautätigkeit in ein Museum stellen müsste“. Dieses Rochdale ist „laut Berechnungen bereits im fünften Jahr die deprimierendste Stadt des Königreiches. Stadtgewordene Gehirnschäden sind absolut nicht konsumfördernd, und also befand sich die Stadt im Todeskampf. Seit Jahrzehnten. Wie Tausende Städte des Westens, die sich alle ähneln: Backsteinhäuser, durchweichte Straßen und ein Kino, geschlossene Postämter, geschlossene Supermärkte.“

Es geht also ziemlich düster zu in dem Ort, den die Kinder oder Fast-schon-Jugendlichen Don, Karen, Peter und Hannah „Zuhause“ nennen – euphemistisch gesprochen. Denn, es klingt bereits an, heimelig ist hier gar nichts mehr, was Berg durchdekliniert, indem sie anhand dieser vier Leben gekonnt an der Eskalationsschraube dreht: Karen zum Beispiel sieht sich wegen einer Pigmentstörung zum Freak verdammt; die Mutter, eine arbeitslose, psychisch labile Alleinerzieherin, stirbt bei einem Hochhausbrand; der ältere Bruder quält sie, ihr erster Freund setzt sie unter Drogen und verkauft sie an Vergewaltiger, erst nach Monaten im Drogentaumel kann sie schließlich entfliehen. Und so weiter.

Grundeinkommen als perfides Überwachungstool

Ganz ähnlich, nämlich von Misogynie, Rassismus und nicht zuletzt absoluter Hoffnungslosigkeit geprägt ist auch das Leben der anderen – bis zu dem Zeitpunkt, als die vier, die zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengefunden haben, Richtung London aufbrechen. Für Leserinnen und Leser heißt das nach gut 200 Seiten erst einmal durchatmen – allerdings nur kurz. In London angekommen, wartet ein perfider, aber umso spannenderer Teil des Plots: Dort wurde nämlich gerade die Umsetzung eines wunderbaren Grundeinkommens angekündigt, was weniger eine linke Frohbotschaft ist als ein Startschuss für den totalen Überwachungsstaat.

Veranstaltungshinweis

Buchpräsentation, Konzert und Performance, mit T.Roadz (UK), Prince Rapid und Slix (Ruff Sqwad/UK), Sibylle Berg, Otiti Engelhardt, Antonije Stankovic u. a.: 15. April 2019, 20.00 Uhr im Wiener WUK.

Was die Hoffnungslosigkeit für die, die sich schon jetzt in prekärsten Verhältnissen befinden, nur weiter treibt: Dieses Grundeinkommen gibt es nämlich nur gegen die Einpflanzung eines Chips, der, ergänzt um Informationen der „Endgeräte“ und sonstiger „Smart City“-Tools, ein Karma-Points-System füttert, in das alles einfließt – vom unerlaubten Obst-Probieren im Supermarkt bis hin zu Bewertungen, die hier jeder vom Nachbarn oder Verkaufspersonal bekommen kann: Abwärtsspiralen vorprogrammiert. Was bleibt, Glückspillen wie bei Huxley und Virtual-Reality-Center, die für die, die alles verloren haben, das frühere Leben simulieren. Nur wenige, darunter auch Don, Karen, Peter und Hannah, versuchen eine Existenz außerhalb des Systems.

Sensibel machen für die Verwerfungen der Gegenwart

Dass Sibylle Berg ihr Buch in England angesiedelt hat, kommt nicht von ungefähr: „In unserer neoliberalen Liga ist Großbritannien am weitesten fortgeschritten, mit einer Kriegserklärung an über ein Viertel der Bevölkerung, die seit Thatcher irgendwo geparkt sind und an deren Lebensminimum ständig gesaugt wird.“ Ein Buch als Aufrüttlungsversuch? „Ich stelle mir die Frage wirklich nicht“, meint sie. „Schön wäre es aber“, fügt sie hinzu, „wenn man die Lehre daraus ziehen würde, minimales IT-Wissen anzuwenden wie beispielsweise die Mail-Verschlüsselung.“

Der Überwachung beizukommen sei letztlich sowieso nicht möglich, wenn man am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wolle. Die totale Onlinevernetzung ist hier in eine Totalüberwachung gemündet – und Berg gelingt es, bei all der „Normalisierung“ der Katastrophen, sensibel zu machen für die Zumutungen und Verwerfungen der Gegenwart.