Schülerinnen benutzen Miskroskop
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„Typische Männerberufe“

Rollenklischees schaden nicht nur Mädchen

Mit zig Aktionen wird seit Jahren versucht, Schülerinnen für Technik zu begeistern. Doch wo könnte man das Klischee von den „typischen Männerberufen“ besser entzaubern als dort, wo Jugendliche die meiste Zeit verbringen: zu Hause und in der Schule? Gerade dort sind stereotype Rollenbilder und veraltete Unterrichtsmethoden aber oft noch fest verankert – zum Nachteil nicht nur von Mädchen.

Nur zwischen 25 und 30 Prozent der Studierenden an den Technischen Universitäten in Österreich sind Frauen. Um mehr Interesse von Mädchen für MINT-Berufe, also Berufe in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, zu wecken, wird viel getan: Fachhochschulen werben am Tag der offenen Tür mit „exklusiven Führungen für Interessentinnen“, MINT-Botschafterinnen besuchen Schulen, und am jährlich stattfindenden Girl’s Day können Mädchen in technische und naturwissenschaftliche Berufe hineinschnuppern.

Als Teil eines „Potpourris an Maßnahmen“ können Initiativen wie diese „sicher Wirkung haben“, sagt Christian Bertsch. Dass punktuelle Aktionen viel verändern, bezweifelt der Professor für Naturwissenschaftsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Wien allerdings. Man müsse direkt im Unterricht ansetzen – und dabei gar keinen so großen Unterschied zwischen Mädchen und Burschen machen.

„Österreich hat Aufholbedarf“

Denn es gehe vor allem darum, wie unterrichtet wird, so Bertsch, und da habe Österreich Aufholbedarf. Die letzte PISA-Studie zeigte, dass das Interesse an MINT-Fächern wie Physik und Chemie in keinem der teilnehmenden Länder geringer ist als in Österreich. Mit einer Ausnahme: Schüler und Schülerinnen, die im Unterricht regelmäßig zu Themen, die für sie relevant sind, forschen und experimentieren können, zeigen laut Bertsch sogar deutlich mehr Interesse als der Durchschnitt der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

MINT-Schulen

Mit dem „MINT-Gütesiegel“ werden Schulen ausgezeichnet, die schwerpunktmäßig innovativen MINT-Unterricht umsetzen und mit vielfältigen Zugängen Mädchen wie Buben gleichermaßen fördern. Eine Landkarte zeigt die MINT-Schulen in Österreich.

Der Knackpunkt: In Österreich werde sehr selten so unterrichtet. An den heimischen Schulen stehe die Vermittlung von Faktenwissen noch immer im Vordergrund, so Bertsch. Was die PISA-Studie auch zeigte: „Es gibt kein Land, in dem der Unterschied zwischen Faktenwissen und Prozesswissen so groß ist wie in Österreich. Im Wiedergeben von Faktenwissen schneiden österreichische Schülerinnen und Schüler überdurchschnittlich gut ab, im Prozesswissen, wo es darum geht, selber Experimente zu planen oder aus Daten selbstständig Schlussfolgerungen zu ziehen, schneiden wir leider sehr schlecht ab.“

Sneakers erforschen im Chemieunterricht

Zu mehr Verständnis mathematischer Formeln oder gar mehr Interesse daran führt die Vermittlung von Faktenwissen aber nachweislich nicht, sagt Bertsch. Denn für Verständnis und Interesse seien zwei Aspekte wesentlich – die beide in der Vermittlung von Faktenwissen nicht vorkommen: Alltagsbezug und Sinnstiftung. Was das für den Unterricht bedeuten kann, beschreibt Bertsch folgendermaßen: „Wenn ich thematisiere, wo die jeweilige Technik in der Gesellschaft eingesetzt wird, zum Beispiel in der Medizin, ist das für Mädchen und Burschen gleichermaßen interessant. Das ist Sinnstiftung. Und statt im Chemieunterricht über Polymere nur zu sprechen, kann ich erforschen, wie Polymere bei der Herstellung von Sneakers eingesetzt werden. Das ist Alltagsbezug.“

Physikunterricht
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Zwischen Formeln erlernen und Formeln verstehen können Welten liegen

Von einem Unterricht, in dem mit Blick auf Sinnstiftung und Alltagsbezug geforscht und experimentiert wird, würden sowohl Mädchen als auch Burschen profitieren. Der Status quo zeigt beim Interesse an MINT-Fächern dennoch einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Dass Mädchen eine Zukunft in diesem Bereich seltener in Erwägung ziehen als Burschen, ergab unlängst etwa eine Studie des Instituts für Soziologie der Universität Graz, für die 664 Schülerinnen und Schüler an steirischen Oberstufen befragt wurden. Nur knapp 15 Prozent der Mädchen sehen ihre berufliche Zukunft im technischen Bereich. Bei den Burschen tut das immerhin gut die Hälfte. An erster Stelle, mit knapp 60 Prozent, stehen bei den Mädchen Berufe im Sozialbereich, dicht gefolgt vom Gesundheitsbereich.

Unterscheiden zwischen Fakt und Fake

Wenn Mädchen also, wie immer wieder behauptet wird und nicht zuletzt auch durch Zahlen belegt ist, lieber Sprachen studieren oder im Sozialbereich arbeiten wollen, warum soll überhaupt Interesse für MINT-Fächer geweckt werden? Bertsch hat dafür zunächst einmal zwei Argumente: „Erstens erhöht eine gute MINT-Ausbildung die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil die einzelnen Berufe sehr nachgefragt sind.“ Und zweitens würden Kinder und Jugendliche durch die forschende Auseinandersetzung mit MINT ein Wissenschaftsverständnis und Kritikfähigkeit entwickeln.

Professor für Naturwissenschaftsdidaktik Christian Bertsch
Lisa Resatz
Christian Bertsch ist Professor für Naturwissenschaftsdidaktik an der PH Wien

„Sie lernen, Fakten von Fake zu unterscheiden und evidenzbasiert Entscheidungen zu treffen. So können sie sich aktiv und forschungsbasiert bei wichtigen gesellschaftlichen Themen wie Klimawandel oder Impfpflicht einbringen.“ Für eine demokratische Gesellschaft sei die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften und Technik wichtig, „weil die Kinder lernen müssen, zwischen wissenschaftlich akzeptiertem Wissen und persönlichen Meinungen oder obskuren Theorien zu unterscheiden. Gerade heute, wo ich in Sekundenschnelle am Handy oder Computer Unmengen an Informationen finde, ist es wichtig, zwischen Fakt und Fake unterscheiden zu können.“

„Wir tragen stereotype Rollenbilder weiter“

Dass Mädchen sich von vornherein weniger für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik interessieren, glaubt Bertsch außerdem nicht. Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Buben in der Schule seien in Österreich schon relativ früh zu bemerken – „in Mathematik zum Beispiel schon in der Volksschule“. Dass dies nicht in allen Schulsystemen weltweit so ist, ist für ihn ein Hinweis darauf, dass diese Geschlechtsunterschiede kulturell bedingt sind.

„Wir müssen uns eingestehen, dass wir selbst stereotype Rollenbilder weitertragen. Zum Beispiel gehen viele Eltern, Lehrende und auch schon Kinder davon aus, dass Buben in Mathematik begabter sind als Mädchen. In so einem Umfeld ist es für Buben leichter, sich für Zahlen und Formeln zu begeistern.“ Der erste Schritt, etwas zu verändern, sei daher, „ein Bewusstsein zu schaffen, dass wir alle selbst stereotype Rollenbilder haben, weil wir in diesem Kulturkreis sozialisiert wurden“.

Dass die Bildungs- und Berufspläne von Schülerinnen von diesen einzementierten Rollenbildern beeinflusst sind, zeigte unlängst auch eine Studie der FH Oberösterreich, bei der untersucht wurde, welche Faktoren für Schülerinnen ausschlaggebend sind, sich für oder auch gegen ein Informatikstudium zu entscheiden. Neun von zehn Schülerinnen werde von Eltern und Lehrenden nahegelegt, etwas „Frauenspezifisches“, Soziales oder Kommunikatives zu studieren.

Weniger Vorurteile – mehr Vorbilder

Was braucht es also, um diese Rollenbilder aufzubrechen? Bertsch plädiert dafür, schon früh sowohl in der Schule als auch im Elternhaus anzusetzen. „Ein Vater hat mir letztens ganz stolz erzählt, er hätte mit seiner Tochter einen platten Reifen repariert. Warum ist es nicht selbstverständlich, dass man das mit Mädchen genauso macht wie mit Buben? Oder dass man auch mit der Tochter das Display vom Handy repariert? Das würde ihr Kompetenzempfinden erhöhen, und sie würden sich in Zukunft in technischen Fragen mehr zutrauen.“

Heute sind Frauen in MINT-Studien und MINT-Berufen in Österreich unterrepräsentiert. Den Mythos, Mädchen interessierten sich nicht für Technik oder seien dafür einfach nicht begabt, zu entzaubern kann dazu beitragen, dass MINT-Karrieren für Schülerinnen zu einer selbstverständlichen Option werden. Was zur Folge hätte, dass die nächste Generation mehr weibliche Vorbilder hat. Wundermittel braucht es dafür keine: Sowohl Buben als auch Mädchen müssten von klein auf Erfolgserlebnisse in Technik und Mathematik ermöglicht werden, so Bertsch. „Das erhöht ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und sie sagen sich auch in Zukunft öfter: ,Das traue ich mir zu.‘“