Landschaftsgemälde
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Historie

Die Idee von Finnland

Es gibt wohl wenige Länder, an denen sich die Verbindung von Moderne und Nationalbewusstsein so eindrücklich studieren lässt wie am jungen finnischen Staat. Betrachtet man den Weg Finnlands in die Autonomie, dann ist es in gewisser Weise wie ein Musterstaat, wie ihn sich die Staatstheorie des 19. Jahrhunderts vorgestellt hatte: mit breitem gesellschaftlichem Konsens über die Struktur, wie denn ein Staat ausgerichtet sein müsse.

1917 endete in Finnland „die Zeit der Unterdrückung“, wie der finnische Nationalatlas aus dem Jahr 1899 die Zugehörigkeit des finnischen Territoriums zum Zarenreich bezeichnete. War man Jahrhunderte von den Schweden dominiert, ein Umstand, der sich heute noch in der schwedischen Weigerung, den Namen Helsinki auszusprechen, niederschlägt (die Schweden beharren auf „Helsingfors“), so prägt das zaristische Reich die Geschichte Finnlands im 19. Jahrhundert.

Bevor Wladimir Uljanow, genannt Lenin, die Revolution der Bolschewiki zum Abschluss brachte, zog er sich wie viele andere Bohemiens St. Petersburgs immer wieder nach Finnland zurück – zugegeben, Lenin tat es aus politischen Gründen, aber im Habitus jener reichen Russen, für die Finnland etwas Bukolisches vor den Toren des betriebsamen St. Petersburg hatte.

Snellman und die Theorie vom finnischen Staat

Lange keimte im 19. Jahrhundert das Bewusstsein, Finnland müsse einmal ein eigenständiges staatliches Gebilde werden. Entscheidender Motor dafür war der skandinavische Junghegelianer Johan Vilhelm Snellman, der, eigentlich in Stockholm im Jahr 1806 geboren, zum Hauptproponenten für das finnische Nationalbewusstsein wurde und nicht zuletzt den Wert einer eigenständigen finnischen Sprache als Kern für einen unabhängigen Staat sah.

Coverbild der Zeitschrift Saima
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Die einflussreiche Kulturzeitschrift „Saima“, die zwischen 1844 und 1848 herausgegeben wurde und eine Triebfeder in der Unabhängigkeitbestrebung war

Eine prosperierende Region im russischen Westen

Finnland war im 19. Jahrhundert als Region in institutioneller und wirtschaftlicher Hinsicht besser aufgestellt als das schlecht verwaltete Zarenreich. Schrittweise konnte eine gewisse Verwaltungsautonomie gefestigt werden, und Snellman nutzte als junger Staatsrechtler eine gute Verbindung zum neuen Zaren Alexander II., der 1855 den Thron bestiegen hatte. Alexander II. fürchtete in dem teilweise zweisprachigen Gebiet am Westrand seines Reiches das Erstarken des damals modischen „Skandinavismus“ und begrüßte die von Snellman propagierte finnische Sprache, durch die er sich eine Abkehr von der schwedischen Kultur erhoffte.

Was die Administration in St. Petersburg aber übersah: Trotz einer schwedisch-finnischen kulturellen Mikro-Rivalität hatte sich die typische schwedische Kultur, bei der die Oberschicht deutlich weniger gesellschaftliche Autorität beanspruchen konnte als der gut funktionierende Großbauernstand, festgesetzt. Alle revolutionären Ansprüche auf finnischem Territorium betrafen alleine die kulturelle Identität – nie wurden soziale Umwälzungspläne mobilisiert.

Der gemeinsame Gegner

Snellman konnte auf dieser für ihn doch relativ homogenen Gesellschaftsstruktur die Theorie Hegels, wie sie in dessen Rechtslehre formuliert war, wie in einer gesellschaftspolitischen Petrischale anordnen. Ein nach sittlichen Gesetzen funktionierendes Ganzes, bei dem breite Gesellschaftsschichten ähnliche Interessen hatten, ließ sich nicht zuletzt deshalb formulieren, weil es einen gemeinsamen Gegner gab: die russische Fremdbestimmung.

„Selbst der ‚Sprachkonflikt‘ zwischen den schwedischen und finnischen Gesellschaftsteilen war lediglich ein kultureller Kampf, der nicht mit den Forderungen nach sozialen Umwälzungen verbunden waren“, schreibt der finnische Historiker Ville Lukkarinen. Das Idiom der Finnen sollte zu einer „akzeptablen Sprache“ weiterentwickelt werden, mit der man das Schwedische vor allem als Staats- und Verwaltungssprache ganz ablösen wollte. Der wirtschaftliche Aufschwung in Finnland hatte zudem eine eigene Gesetzgebung in der Region nötig gemacht – das Tagen des Reichstages ab 1863 ist ein Indiz dieser Entwicklung.

Landschaftsbild von finnischer Landschaft im Winter vom Maler Victor Westerholm
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Die Weiten der finnischen Natur werden zur großen Projektion für die finnische Kunst um 1900, sowohl in der Musik von Jean Sibelius als auch wie hier in der Malerei von Victor Westerholm

Der Wankelkurs von Nikolaus auch im Westen

Gegen die finnische Identitätsbewegung mobilisierte zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur die pro-schwedische Bewegung. Unter Alexanders Nachfolger Nikolaus II. wollte die zaristische Verwaltung nicht zuletzt das Reich mehr zentralisieren und gleichzeitig eine Russifizierung der entlegenen Regionen vorantreiben. Das Februarmanifest aus dem Jahr 1899 schränkte die Rechte der Finnen stark ein – politische Spannungen am Westrand des Reiches waren die Folge, die in der Ermordnung des Generalgouverneurs Nikolai Bobrikow 1904 gipfelten.

Im Schatten der ersten Russischen Revolution 1905 musste der Zar auch gegenüber den vor sich hin streikenden Finnen Konzessionen eingehen, was in die Wiederherstellung der Autonomie sowie die Schaffung einer nicht ständischen Volksvertretung mündete.

Erstmals dürfen Frauen wählen und gewählt werden

1907 tagte das finnische Parlament zum ersten Mal. Die Sensation für die damalige Zeit: Alle Finnen ab 24 durften wählen, auch Frauen. Mehr noch: Frauen hatten auch das passive Wahlrecht und konnten ins Parlament gewählt werden. Dennoch, Bemühungen um eine Russifizierung Finnlands hörten auch wenige Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs nicht auf. Zu nah lag St. Petersburg, auch wenn man dort mit sich selbst und viel größeren politischen Umwälzungen beschäftigt war.

Katalysator für das finale Unabhängigkeitsstreben wurden die Ereignisse in St. Petersburg bzw. Petrograd, wie die Stadt jüngst russifiziert hieß, mit den Ereignissen seit der Februarrevolution 1917. Als nach der Oktoberrevolution die neue russische Regierung der Volksdeputierten den Völkern Russlands das Recht auf Selbstbestimmung einräumte, erklärte das finnische Parlament am 6. Dezember 1917 Finnlands Unabhängigkeit.

Ausrufung der Unabhängigkeit

Das junge Sowjetrussland erkannte Finnland und einige andere Staaten am 18. Dezember (julianisch bzw. 31. Dezember 1917 greg.) an. Begleitet wurden die Geburt des jungen Staates und die Ablösung von Russland von schweren inneren Konflikten, die am 27. Jänner 1918 in einem sozialistischen Umsturzversuch mündeten. Ein darauf folgender Bürgerkrieg über die Dauer von drei Monaten brachte, anders als in Russland, einen Sieg der „Weißen“, also des bürgerlichen Lagers.

Im Jahr 1919 gab sich Finnland eine republikanische Verfassung. Mit Sowjetrussland wurde 1920 ein Friedens- und Grenzvertrag unterzeichnet, aufgrund dessen die Grenzen Finnlands mit dem früheren Großherzogtum übereinstimmten, Finnland aber zusätzlich das Gebiet Petsamo mit dessen eisfreiem Zugang zum Nordmeer zugestanden wurde.

Was sich in Finnland in der gesamten Geschichte des jungen Staates aus dem Ablösungsprozess von Russland halten sollte, ist das Gefühl der „Finnlandisierung“. Gemeint ist damit ein vorauseilender Gehorsam gegenüber dem großen Nachbarn im Osten, der das Land in der noch folgenden wechselhaften Geschichte bis zum EU-Beitritt immer wieder lähmen sollte und von Intellektuellen für einen gewissen gesellschaftlichen Stillstand in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht wurde.

Nation, Kunst, Design und Moderne

Was bei einem Blick auf hundert Jahre Finnland jedenfalls überdeutlich wird: die Verbindung von Nationalbewusstsein und Moderne – und auch die Verbindung, wie gerade die Kunst zum Leitbild für die junge Nation geworden ist. Jean Sibelius auf dem Boden der Musik, Alvar Aalto im Bereich der Architektur und auch die Design-Explosion Finnlands bis zur Gegenwart haben das Land im Nordosten Europas zu einem der Moderne zugewandten Nationalgebilde gemacht.

Und auch wenn man heute von den „nordischen“ Ländern spricht, um das Attribut „skandinavisch“ nicht auf die finno-ugrische Sprachkultur überzustülpen, so bleibt doch eine für alle nordischen Länder typische Identitätsbeziehung zwischen modernem Gestaltungswillen und nationalem Selbstbewusstsein. Die Siglen dafür heißen heute: Marimekko, Iittala, Muurla und Co.